StarCraft

DUNKLE TEMPLER BUCH I

ERSTGEBOREN

CHRISTIE GOLDEN

Ins Deutsche übertragen von Timothy Stahl

Dieses Buch ist Marco Palmieri und Chris Metzen gewidmet, in tief empfundener Wertschätzung ihrer Unterstützung und Begeisterung, sowie all jenen Spielern, die das StarCraft-Feuer am Lodern halten.

PROLOG

Die Zeit verlief nicht linear. Ganz im Gegenteil. Die Zeit verschlang sich in sich selbst, lief Ereignissen, Empfindungen und Augenblicken entgegen, verflocht sich darin und umschloss sie, um dann davonzuwehen in einzelnen schimmernden, strahlenden, herrlichen Fäden, die ganz für sich standen, ehe sie wieder in dem gewaltigen Fluss aufgingen.

Die Bewahrerin ruhte und träumte, und die Zeit wand sich um sie und durch sie hindurch. Erinnerungen flatterten durch ihren Geist wie zartflüglige Insekten – ein Wort, das Jahrhunderte zunichte machte, ein Gedanke, der den Lauf einer Zivilisation veränderte. Individuen, deren Einsichten und Bestrebungen, deren Gier und Angst scheinbar unveränderliche Schicksalsströme in etwas Neues und Frisches und bislang Undenkbares verwandelten. Momente, in denen alles bedenklich schwankend am zerbröckelnden Rand eines Abgrunds stand, in denen etwas so Unfassbares wie eine Idee alles ins Vergessen stürzte… oder es zurückzerrte auf sicheren, festen Boden.

Jeder Gedanke, jedes Wort, jede Tat, jedes Leben war ein bloßer Tropfen im riesigen Meer der Zeit, das sich unablässig vermengte und trennte, um dann wieder eins zu werden! Eine Vorstellung, die manchen Geist auf die Probe stellte, das wusste die Bewahrerin. Ihrem Geist jedoch war es bestimmt, derlei Widersprüche aufzunehmen, dass Dinge voneinander getrennt sein konnten und doch keine eigene Identität hatten. Sie war dazu geboren, solche schwer fassbaren Konzeptionen zu begreifen.

Über all diesen Gedanken an Worte, Leben und Ideen schwangen große Dringlichkeit und Furcht. Die Zeit verlief nicht linear – die Zeit bewegte sich hin und her und veränderte sich. Aber es gab Muster, die an die Oberfläche trieben und deren miteinander verwobene Fäden so deutlich und stark waren, dass selbst der trübste Geist sie erfassen musste. Unvermeidlich? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ein ums andere Mal erschien das Muster in den wirbelnden Wassern der Zeit, des Schicksals und des Glücks, versank dann wieder und manifestierte sich schließlich mit einer derart kalten Präzision, dass selbst die Bewahrerin erzitterte. Alles Wissen, das sie hütete, war kostbar – jede Erinnerung, jeder Laut, jeder Geruch, jede Empfindung, jede Stimme, jedes Wort, jeder Gedanke. Alles war für ihr Volk von größter Bedeutung.

Aber dieses Wissen, das Wissen um jenes Muster, das schon so oft aufgetreten war und nun im Begriff stand, ein weiteres Mal aufzutreten… nun, das war der eigentliche Grund, weshalb die Bewahrerin mehr als nur wichtig für ihr Volk war.

Das war es, was sie unentbehrlich machte.

Sie öffnete sich dem, was dort draußen war, und jede Sekunde, die in ihrer nichtlinearen, einzigartigen Majestät vertickte, wollte sie zwingen, sich zu verschließen, sich nicht dem Schmerz preiszugeben, den das Treibgut verursachte, das der schwellende Fluss mit sich trug.

Doch derlei durfte sie sich nicht gestatten. Nicht jetzt, da das schreckliche Wissen um die Dinge, die in der Vergangenheit geschehen waren und die sich nun mit Gewissheit wiederholen würden, die Wasser der Zeit in ihrem Geist verschmutzte.

Sie nahm all ihre Kraft zusammen und sandte den Ruf aus.

KAPITEL 1

Wenn es einen Gott gab, dann hatte Jacob Jefferson Ramsey ihn nie gesehen – aber er zweifelte ohnehin häufig an seiner Existenz. Allerdings wusste Jacob Jefferson Ramsey, dass es einen Satan gab. Weil nämlich ganz sicher eine Hölle existierte, und die hieß Gelgaris.

Vor einigen Jahren war Archäologie eine reichlich fade, wenn auch respektierte Profession gewesen, ähnlich einer alten, in Leder gebundenen Enzyklopädie, die man von Zeit zu Zeit mit verlegenem Stolz abstaubte. Die Konföderation hatte kärgliche, aber immerhin regelmäßige Subventionen bewilligt, und Jake Ramsey, ein reichlich fader, wenn auch respektierter Archäologe, hatte einen ansehnlichen Teil davon erhalten.

Über die Jahre hatte er in einen Schutzanzug gehüllt an Orten ohne Atmosphäre glückselig im Sand gehockt, vor sich hinpfeifend im Dreck malocht und müde Witze gerissen. Er war von Sonne und Wind oder einfach nur so malträtiert worden, er hatte gefroren und sich Erfrierungen zugezogen oder war von Viehzeug gestochen und gebissen worden.

Er hatte sämtliche Schwierigkeiten mit einem fröhlichen Optimismus überstanden, der seinen Mitarbeiter ebenso sehr auf die Nerven ging wie anspornte.

Aber dieser Ort hier…

Jake und sein Team saßen fest an einem Ort, den Darius Grayson ebenso schlicht wie treffend als »Pickel am Arsch des Universums« bezeichnet hatte.

Seit zwei Jahren rackerten sich zweiunddreißig Archäologen und eine zunächst forsche und inzwischen nur noch verdrossene Praktikantin auf diesem Felsbrocken ab – mit geringen finanziellen Mitteln, noch weniger Vorräten und einem Geduldsfaden, der täglich kürzer wurde –, ohne dass etwas Zählbares dabei herausgekommen wäre.

Und Jake war überzeugt, dass das der Grund war, weshalb er diesen Ort so unglaublich verabscheute. Ja, bestimmt war das der Grund – und nicht etwa die Temperaturen, die nachts unter null fielen und am Tag Höhen erreichten, bei denen das Blut in den Adern zu kochen anfing. Oder die praktisch mikroskopisch kleinen Insekten, denen es gelang, jeden Riss und jede Falte in der Haut ausfindig zu machen und sich darin häuslich niederzulassen.

Aber ganz egal auch, warum, sagte Jake zu sich selbst, dieser Ort ist jedenfalls die Hölle.

Der unablässige Wind schüttelte ihn durch, als er grimmig von der Raupe stieg – ein funktionelles, schlichtes Fahrzeug – und in seinen winzigen Unterschlupf zurückkehrte, der ihm sowohl als Quartier als auch als Kommunikationszentrum diente.

Es waren nur ein paar Meter, aber diese kurze Strecke kam ihm immer vor, als wäre sie zehn Kilometer lang, ganz gleich, ob es eisig kalt war wie jetzt oder sengend heiß wie gegen Mittag. Er taumelte und wankte wie ein Betrunkener im heftigen Wind, hielt den Blick durch die Schutzbrille aber fest auf die Unterkunft gerichtet, die unendlich langsam näher rückte.

Sie streiften die Schutzkleidung etwa drei Stunden vor Sonnenuntergang über, denn dann sanken die Temperaturen schneller als ihre Stimmung.

Jake jedoch war überzeugt, dass die Anzüge gar nicht wirklich funktionierten. Kein einziger. Weil ihm darin immer so verdammt kalt war.

Zweimal täglich gab es jeweils eine kurze Phase von etwa zehn Minuten, in der ihm weder zu kalt noch zu heiß war, und irgendwann hatte Jake festgestellt, dass er nur noch für diese flüchtigen Momente lebte.

Der Wind heulte wie… na ja, wie etwas, das eben heulte. Er war so müde, dass er nicht einmal ein Lächeln zustande brachte, streckte eine behandschuhte Hand aus und berührte endlich – endlich – die Tür. Er drehte seinen Körper, um sich so gut es ging gegen den Wind abzuschirmen, damit er die Finger ruhig halten konnte, und versuchte den Zahlencode einzugeben.

Er konnte das Tastenfeld nicht sehen, zu vereist war seine Schutzbrille. Die Brillen funktionierten ebenso wenig wie die Anzüge.

Brummelnd setzte er sie ab, blinzelte gegen Kälte und Wind an, gab den Code ein und schloss die Tür hinter sich wieder, um eine weitere frostige Nacht auszusperren.

Das grelle Licht, das sich beim Betreten des Raumes automatisch eingeschaltet hatte, schmerzte fast nach der Dunkelheit der Gelgaris-Nacht.

Jake kniff die Augen für einen Moment zusammen und ließ seine Handschuhe zu Boden fallen, während er in die Wärme der Unterkunft eintauchte. Dann blinzelte er erschrocken.

»Scheiße!«

Einer dieser winzigen, blau schimmernden Vierfüßler (er fragte sich oft, wie sie überlebten, wo doch sonst nichts da draußen überleben konnte – aber das war eine Frage für einen Entomologen) war ihm auf seinen zehn Beinchen ins Auge gekrabbelt, wo es Behaglichkeit suchte, und er hielt kurz inne, um es herauszupulen und zwischen seinen schwieligen Fingern zu zerquetschen. Danach entschied er sich, seine Stimmung noch mehr zu drücken, indem er nachschaute, ob Nachrichten vorlagen. Für gewöhnlich war dies nicht der Fall. Jake hatte schon, bevor die Zerg Mar Sara verschlungen und die Protoss gekommen waren, um den Rest zu erledigen, kaum Menschen gekannt, die er als Freunde betrachtet hätte. Und so erwartete er jetzt auch nicht wirklich irgendwelche Nachrichten.

Ein paar Leute seiner Crew hatten noch Familie und standen mit ihnen in Kontakt. Allerdings hatte Jake bemerkt, dass dieser Kontakt, je mehr Zeit verging, immer weniger wurde.

Er trottete hinüber zum Vidsys, einem altmodischen Gewirr aus verbeultem Metall, Drähten und Lampen, schälte sich unterwegs aus der eisverkrusteten Schutzkleidung und fuhr sich mit den Fingern durch sein sandbraunes Haar… bis ihm auffiel, dass immer noch schimmernde Insekteneingeweide daran klebten.

Ach, egal, damit wurde der Schallreiniger schon fertig – ebenso wie er ihm jedes Mal ein paar Schichten Haut abscheuerte, die Jake, wie er annahm, ohnehin nicht brauchte.

Auf der Konsole blinkte ein rotes Licht.

Jake blinzelte mit seinen blauen Augen, unschlüssig, ob das Blinken echt war oder nur eine willkommene Halluzination, ausgelöst von dem verstorbenen, unbetrauerten Vierfüßler.

Nein, es war echt, und es blinkte so munter, als gehörte es zum Schmuck eines Weihnachtsbaums in einer der besseren Gegenden von Tarsonis – damals, als es Tarsonis noch gegeben hatte…

Sorge stieg in ihm auf. Als sie das letzte Mal eine Nachricht erhalten hatten, war Leslie Cranes Mutter an einem schweren Schlaganfall gestorben. Und natürlich hatte Leslie nicht zurückreisen können, um ihr die letzte Ehre zu erweisen oder ihrem am Boden zerstörten Vater beizustehen; die Fähre würde erst wieder in acht Monaten bei ihnen eintreffen.

Jake holte tief Luft und wappnete sich für das Schlimmste. Dann drückte er das nervtötend blinkende Lämpchen. Auf dem Bildschirm erschien die Insignie des Dominions.

Jake hob überrascht eine Augenbraue. Seit man ihnen ihre Ärsche auf einem Tablett serviert hatte, war das terranische Dominion etwas weniger dominant gewesen. Er hatte gehört, dass Mengsk sich mit dem Wiederaufbau beschäftigt hielt, und die Insignie auf dem Schirm bewies, dass ihnen das zumindest bis zu dem Punkt gelungen war, an dem sie offizielle Nachrichten versenden konnten.

Aber warum zum Teufel sollte irgendjemand im Dominion eine Nachricht an Jake Ramsey oder ein Mitglied seines Teams schicken?

Der Bildschirm wurde kurz dunkel, dann zeigte er das Gesicht eines jungen Mannes. Blondes Haar fiel in Locken auf den hohen Kragen einer Militäruniform. Es war länger, als es die Vorschrift erlaubte, was den Jungen entweder als militärischen Rebellen oder die berühmte Ausnahme von der Regel auswies. Stahlgraue Augen, edle Züge und eine ruhige Haltung vereinten sich zu einem Erscheinungsbild, das den jungen Mann fast zu schön machte, um noch »gut aussehend« genannt zu werden. Jake verzog das Gesicht und machte sich auf alles gefasst. Jeder, der so gut aussah, musste zwangsläufig eingebildet sein.

»Guten Tag, Professor Ramsey«, sagte der junge Mann mit volltönender, angenehmer Stimme. »Mein Gesicht mag ihnen nicht bekannt sein, mein Name indes schon. Ich bin Valerian Mengsk, Sohn unseres ruhmreichen Kaisers Arcturus.«

Jakes Augenbrauen reckten sich nach seinem Haaransatz. Mengsk hatte einen Sohn? Er dachte an das, was er in den Holos von Mengsk gesehen hatte. Mengsk verfügte nicht über die physische Perfektion dieses Jungen, aber Jake erkannte das selbstsichere, geschliffene Auftreten wieder. Offenbar war der Apfel nicht weit vom Stamm gefallen. Die Ausnahme von der Regel also, kein militärischer Rebell.

Valerian lächelte. »Ich bin sicher, es überrascht Sie, das zu hören, da mein Vater nicht offiziell verkündete, dass ich sein Sohn bin. Im Augenblick gibt es mich eigentlich gar nicht… aber ich versichere Ihnen, dass ich existiere, und die Finanzmittel, Ausrüstung und die Gelegenheit, die ich Ihnen anzubieten im Begriff bin, sind ebenso real. Ich nehme an, Sie wundern sich, weshalb ich heute mit Ihnen Kontakt aufnehme.«

»Ja«, dehnte Jake, als spräche er tatsächlich mit diesem unmöglich perfekten Jungen, anstatt einer aufgezeichneten Nachricht zu lauschen. »Der Gedanke kam mir in den Sinn.«

Die Tür ging auf und ein Schwall eisiger Luft fegte herein. Eine raue Männerstimme stieß einen Fluch aus, als ihr Besitzer über Jakes abgelegte Ausrüstung stolperte.

»Verdammt, Jake«, ertönte eine verärgerte Frauenstimme, »hör endlich auf, dein ganzes Zeug auf dem Boden herumliegen zu lassen!«

Jake nahm die Augen nicht vom Vidschirm. Er winkte Darius und Kendra Massa jedoch zu sich, die daraufhin herbei eilten und mit ihm auf den Bildschirm blickten.

»Sie und ich, wir teilen eine große Leidenschaft«, fuhr Valerian fort.

Kendra, die gerade mal vierundzwanzig war und sich oft über den Mangel an gut aussehenden Männern bei den Ausgrabungen beklagte, lachte leise.

»Mit dem würde ich auch gern die eine oder andere Leidenschaft teilen«, sagte sie. »Wer ist der Typ, Prof?«

»Valerian Mengsk«, antwortete Jake. »Der Sohn von Arcturus.«

»Willst du mich verscheißern?«, stieß Darius gewohnt unverblümt hervor. Jake bedeutete beiden, still zu sein.

»Wir teilen die Leidenschaft für die Werke der Vergangenheit«, sagte Valerian. Sein Ton klang dabei etwas affektiert, was aber zu ihm passte. »Für die Beweise, die von längst vergessenen, von Zeit, Wind und Staub begrabenen Zivilisationen hinterlassen wurden. Für ans Licht gebrachte Bauten und wiederentdeckte Schätze – keine Truhen voller Gold, sondern echte, wahre Wissensschätze. Mein Vater war in den vergangenen Monaten nicht untätig. Wir bauen das Dominion wieder auf, und sowohl er als auch ich haben geschworen, dass es nicht einfach eine Herrschaft der Macht werden soll, sondern auch eine der Kunst und der Wissenschaften.«

Darius machte eine Bemerkung, die selbst Jake, der ihn seit zehn Jahren kannte, erröten ließ.

»Halt die Klappe, Darius«, brummte Jake. In ihm rührte sich irgendetwas, etwas, von dem er geglaubt hatte, es sei vor langer Zeit schon abgetötet und begraben worden, so gründlich zerquetscht, wie er den Vielfüßler zermalmt hatte. War es Hoffnung? Valerians intensiver grauer Blick bohrte sich in den seinen, als sähen sie einander wirklich an. Er merkte, dass sein Herz schneller schlug in der Erwartung von Valerians nächsten Worten.

»Vor nicht allzu langer Zeit wurde auf dem Planeten Bhekar Ro ein fremdartiges Gebilde entdeckt, anders als alles, was wir je gesehen haben. Ich bin sicher, der Fall ist Ihnen bekannt.«

Das war er in der Tat. Sie hatten selbst in diesem gottverlassenen Höllenloch davon gehört: Ein heftiger Sturm hatte ein Gebäude – wenn man es so nennen wollte – freigelegt, das niemand begriff. Als ein Junge versehentlich etwas tief in dem Artefakt aktivierte, hatte es ein Signal ausgesandt, das von allen drei der intelligenten Rassen aufgefangen worden war. In der Folge war ein furchtbarer Kampf entbrannt, in dem die Terraner, die Protoss und die Zerg das wunderbare Ding jeweils für sich beanspruchten.

Der Hammer, den niemand vorausgesehen hatte, kam, als eine vollkommen neue Lebensform aus dem Konstrukt hervorbrach. Es war eine Art… Energiewesen, das sowohl die Zerg als auch die Protoss absorbierte, die Menschen jedoch aus einem Grund, den bislang niemand kannte, am Leben ließ und lediglich verjagte. Jake hatte viele Nächte wach gelegen, darüber nachgegrübelt und sich gewünscht, er wüsste mehr. Er hatte eine Theorie entwickelt und Artikel darüber veröffentlicht. Und er hatte keine besonders netten Gedanken gehegt, als er Gerüchte aufschnappte, dass immer mehr andere Archäologen weitere Artefakte entdeckten, die weder den Protoss noch den Zerg zuzuschreiben waren, sondern etwas Neuem, etwas anderem, etwas…

Jake blinzelte und kehrte in die Gegenwart zurück, als ihm bewusst wurde, dass Valerian immer noch sprach. Er würde sich die Aufzeichnung noch einmal ansehen müssen; er war sicher, dass er, vor Schreck in Gedanken versunken, einen Teil davon versäumt hatte.

»Meinem Vater ist aufgefallen, dass immer mehr Artefakte gemeldet werden. Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, warum sie zurzeit so gehäuft auftauchen, wir wissen nur, dass es so ist. In seiner Weisheit hat mein Vater entschieden, dass sie alle erforscht werden sollen, und da er von meiner großen Liebe für die Archäologie weiß, hat er mir die Verantwortung für dieses Programm übertragen.«

»Haha«, brummte Darius. »Große Liebe für die Archäologie – na klar. Möchte wetten, er hat nie bis zum Arsch hoch im Sand gehockt und versucht – «

»Halt die Klappe!«, schnappte Jake. Denn es erwachte tatsächlich in ihm, fast wie die seltsame Kreatur, die die Zerg und die Protoss aufgesaugt hatte – dieses Ding namens Hoffnung –, und es war eine beinahe schmerzhafte Erfahrung. Wie eine erfrorene Gliedmaße, die schmerzend wieder zum Leben erwachte.

»Weil uns diese Sache so wichtig ist, kann ich Ihnen Dinge anbieten, die Sie lange nicht hatten, wie ich annehme. Volle Finanzierung. Die neueste Ausrüstung und Technologie. Und weil dies so wichtig ist, sollten Sie wissen, dass ich einige Zeit damit verbracht habe, verschiedene Listen mit Namen zu studieren, die auf meinem Schreibtisch gelandet sind«, sagte Valerian. Er kräuselte die Lippen zu einem leichten Lächeln, als er weitersprach: »Ihre Leistung im Rahmen der Pegasus-Ausgrabung wurde nicht vergessen, Dr. Ramsey. Wenn Sie Interesse haben, würde ich Sie gern in dieses Team aufnehmen.«

Darius schlug Jake auf die Schulter, und Jake gestattete sich ein Lächeln. Er war furchtbar stolz gewesen auf das, was er und sein Team auf Pegasus erreicht hatten. Schade nur, dass keines der Komitees, die wichtige Preise vergaben, imstande gewesen war, die Bedeutung dessen zu würdigen, was er getan hatte.

Valerian beugte sich vor und sprach mit ruhiger Dringlichkeit. »Ich möchte, dass Sie sich mir zur Entdeckung der Geheimnisse dieser dritten Fremdrasse anschließen. Was wir herausfinden, könnte der gesamten Menschheit helfen, Dr. Ramsey.«

»Uns würde es auf jeden Fall helfen«, sagte Kendra in leisem Ton. Sie blickte jetzt ohne jede Spur gespielter Lüsternheit auf den Vidschirm, und ihre braunen Augen waren von derselben Emotion geweitet, die auch Jake empfand. »Volle Finanzierung… Mein Gott, glaubst du, das hieße auch Toiletten, die richtig funktionieren?«

Jake hörte sie kaum. Valerian kam zum Ende. »Wenn Sie mit mir kommen möchten, dann nehmen Sie umgehend Kontakt auf. Ich hoffe, dass Sie es tun werden. Am Ende dieser Nachricht finden Sie einen Code. Bitte geben Sie ihn ein, wenn Sie mich auf dieses glorreiche Abenteuer begleiten wollen. Eine letzte Vorsichtsmaßnahme noch: Da ich nicht in offiziellem Auftrag handle, erzählen Sie bitte niemandem, der nicht Ihrem Team angehört, wer Ihr Gönner wirklich ist. Ich werde ein anonymer Wohltäter bleiben. Selbst die Personen, mit denen Sie zu tun haben werden, kennen mich nur als Mr. V… als jemanden, der beim Kaiser Gehör gefunden hat.« Er lächelte sanft. »Ich schlage vor, Sie beeilen sich. Sollten Sie ablehnen, gibt es viele, viele andere, die Ihren Platz mit Freuden einnehmen werden.«

Der Bildschirm wurde schwarz. Jake Ramsey starrte ihn für einen langen Moment an. Im Geiste sah er nicht den schimmernden schwarzen Schirm, sondern das Bild eines hoch aufragenden Tempels einer Fremdrasse, der auf Bhekar Ro entdeckt worden war.

Vom archäologischen Standpunkt aus betrachtet, hatte man die ganze Sache furchtbar verpfuscht. Ach, verdammt, von jedem Standpunkt aus betrachtet hatte man sie verpfuscht. Alle drei Rassen hatten am Himmel und am Boden eine blutige Schlacht gegeneinander geführt. Sämtliche Zerg und Protoss, die auf dem Planeten gewesen waren, hatte es erwischt, die meisten der terranischen Schiffe waren zerstört worden. Es hatte Monate gedauert, bis jemand auch nur daran gedacht hatte, sich auf die Suche nach ihnen zu machen.

All das Wissen, das verloren gegangen war! Der Gedanke verursachte Jake Übelkeit. Es hatten nur sehr wenige konkrete Informationen überdauert. Das schmerzhaft schöne Gebilde, das jenes Geschöpf beherbergt hatte, war pulverisiert worden. All seine Geheimnisse waren mit ihm vergangen. Die hinzugestoßenen Marines hatten Befehl, das Konstrukt entweder zu erobern oder zu vernichten, nicht aber, es zu inspizieren oder zu analysieren. Verdammt, sie hatten sogar versucht, es mit Kernwaffen anzugreifen. Doch das Ding hatte die zerstörerische Energie verschlungen wie Bonbons. Die Folge davon war gewesen, dass nur ein paar wenige Hologramme aufgenommen und kaum Daten gewonnen werden konnten. Gerade genug, um einem Archäologen feuchte Träume zu bescheren.

Geschwungene Wände aus einem Material, das noch nie jemand gesehen hatte. Edelsteine und Farben, Verwirbelungen und Maserungen. Uralt, kein Zweifel, und doch sah es aus, als wäre es erst gestern gefertigt worden.

So viele Fragen: Würde das Militär beteiligt sein? Wer würde letztlich das Sagen über das Projekt haben? Wie wurde es finanziert, und hatte irgendjemand besonderes Interesse daran?

»Jake?« Darius’ dröhnende Stimme ließ ihn regelrecht zusammenzucken. »Wirst du dem Mann antworten, oder willst du nur da stehen bleiben und vor dich hinglotzen? Und wisch dir den Sabber vom Gesicht, ja?«

Jakes Hand tastete automatisch nach seinem Mund, und Darius lachte brüllend. Kendra grinste. Jake wurde rot und lächelte. Es hätte ihn nicht überrascht, herauszufinden, dass er tatsächlich gesabbert hatte.

Er holte tief Luft, gab den Code ein und machte sich auf die Reise.

KAPITEL 2

Valerian Mengsk, zweiundzwanzig, schön und brillant und – so nahm er an – wahrscheinlich auch ein wenig eingebildet, weil ihm all dies bewusst war, nahm locker die Engarde-Position ein. Die nackten Füße fest auf dem Holzboden, der Körper, hoch gewachsen und geschmeidig, in das traditionelle Kampfgewand der Keikogi Hakama gehüllt. Den Griff des vierhundert Jahre alten Schwerts umfasste er mit einer Vertrautheit, die aus jahrelanger Übung resultierte. Die Waffe, elegant, schön und tödlich, war wie eine Verlängerung seiner selbst. Valerian hatte schon lange aufgehört, sie als irgendetwas anderes zu betrachten.

Kerzenlicht glitzerte auf der blanken Klinge. Im Hintergrund lief leise Musik, und in den beiden großen Kaminen brannte knisternd duftendes Holz. Valerian verhielt vollkommen reglos in der sogenannten Reiterstellung; die Muskeln angespannt, hielt er die Position mit der Geduld eines Raubtiers. Die Spitze des Schwerts befand sich an der Kehle eines imaginären Gegners.

Ohne ein Zucken, das seine Bewegung angekündigt hätte, explodierte er.

Valerian bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit und Präzision durch die aufwändigen und graziösen Posen der verschiedenen Formen. Blockieren, zuschlagen, kreiseln, schneiden, ducken, abrollen, springen; ein ums andere Mal verursachte die Klinge einen scharfen Laut, wenn sie durch die Luft schnitt. Sein Atem ging schneller vor Anstrengung, aber immer noch regelmäßig und kräftig.

Zum Ende kommend schleuderte er mit einer raschen, beinahe arroganten Bewegung fiktives Blut und Fleisch von der Klinge, ließ sie über seinem Kopf kreisen und schob sie in ihre Scheide.

Und dann stand er wieder reglos da wie eine Statue, den Atem völlig unter Kontrolle, sodass kein Widersacher jenen schwachen Moment des Einatmens wahrgenommen hätte. Schweiß glänzte auf seiner Stirn und reflektierte den Schein des Feuers, wie es eben noch sein Schwert getan hatte.

Er vollführte eine formelle Verbeugung – und dann war es vorbei.

Valerian legte das Schwert in der Scheide zurück auf den Waffenständer. Dann wandte er sich dem kleinen Tisch zu, auf dem alte Flaschen und Gläser standen, und traf seine Wahl. Der Portwein war lange gereift, und die Karaffe, in der sich die braune Flüssigkeit befand, passte dazu ebenso wie das kleine Glas, in das er sich davon einschenkte.

Er hielt den Portwein hoch, begutachtete die Flüssigkeit, in der sich das Licht verfing, inhalierte ihren Duft und nahm einen kleinen Schluck. Sein Vater mochte rubinrote Portweine; Valerian bevorzugte gelbbraune. Es war eine weitere kleine Möglichkeit für Valerian, sich aus dem überragenden Schatten seines Vaters zu lösen, wenn auch nur in seinen eigenen Augen.

Er vermutete, dass sein rebellisches Wesen nicht einzigartig war. Die Kinder aller großen Persönlichkeiten strebten unentwegt danach, aus dem Schatten ihres Vaters oder ihrer Mutter hervorzutreten. Einigen von ihnen gelang es nicht, und sie wurden zu Namen, deren man sich nur als Bagatellen erinnerte, verschluckt von der Geschichte, so wie ihr eigenes Licht und ihre Talente vom großen Erbe ihrer Eltern verschluckt wurden.

Valerian schwor, dass ihm dieses Los nicht zuteil werden würde. Er nahm einen weiteren Schluck. Die sirupartige Flüssigkeit ummantelte seine Zunge und glitt durch die Kehle, während er ein paar sanft leuchtende Knöpfe an der Wand berührte. Ein großer Teil der getäfelten Wand rollte hoch und an ihre Stelle schob sich eine glatte schwarze Plattform. Valerian ließ sich in einen weichen Ledersessel sinken und machte es sich bequem.

Auf der Plattform erwachten dreidimensionale Bilder zu unstetem Leben. Er hatte dies schon mindestens hundert Mal gesehen, und das war eine vorsichtige Schätzung. Er kannte jede schlecht ausgeleuchtete Szene, jeden linkischen Aufnahmewinkel, jedes ruckende Close-up. Vor ihm liefen sämtliche verfügbaren Aufzeichnungen über jene fremde Schöpfung unbekannten Ursprungs ab.

Das Licht der sich bewegenden Bilder flackerte über sein Gesicht. Er schaute angespannt hin und erinnerte sich an das erste Mal, da er dies gesehen hatte. Das Lärmen von Menschen, Protoss und Zerg, die in Agonie schrien und keuchend ihre letzten Atemzüge taten, hatte ihn nicht im Geringsten gekümmert. Er hatte nur Augen für das Artefakt, und die Gier in ihm ließ sich durch diese unvollkommenen Bilder nicht befriedigen. Valerian fühlte sich wie ein verhungernder Mensch, dem man einen Keks und einen Becher Wasser reichte. Die Folge war nur, dass ihn nach mehr verlangte.

Alte Zivilisationen hatten Valerian schon immer fasziniert. Als er noch klein war, war er zum Spielen hinausgegangen – in Begleitung zweier bewaffneter Soldaten – und hatte im Boden nach Relikten gegraben. Gelegentlich war er dabei auf etwas Merkwürdiges gestoßen, und das hatte er dann immer sorgfältig freigelegt, bis seine Mutter eine ansehnliche Sammlung aus seltsam geformten Steinen, versteinerten Hölzern und den Schalen kleiner Lebewesen besaß.

Arcturus hatte ihn – wenn Valerian den »hohen Herrn« denn einmal gesehen hatte, was bis vor Kurzem genau zweimal der Fall gewesen war – herabgesetzt und zu seiner Mutter gesagt, sie ziehe einen buchgelehrten, verweichlichten Schwächling heran.

Als er älter war, war es Valerian gelungen, unter Beweis zu stellen – selbst seinem skeptischen Vater gegenüber –, dass er zwar »buchgelehrt« sein mochte, nicht aber verweichlicht und erst recht kein Schwächling. Seit er acht gewesen war, hatte Valerian Unterricht im Umgang mit sowohl alten als auch modernen Waffen gehabt. Er war ein meisterhafter Fechter und Kampfsportler, bewegte sich aber auch in voller Gefechtsmontur und bewaffnet mit einem Gaußgewehr leichtfüßig und effektiv.

Kulturen, die Krieg und Kunst miteinander verschmolzen, mochte er am liebsten. Valerians große Leidenschaft galt altertümlichen Waffen. Sie gefielen ihm, weil sie schön, sorgsam gefertigt und… eben alt waren. Arcturus billigte die Sammlungen, weil es sich um Dinge handelte, die andere töten konnten. Dieses Thema war etwas, das die beiden Männer verband, über das sie miteinander reden konnten, und infolgedessen ging es bei den meisten ihrer Konversationen genau darum.

Seit Arcturus beschlossen hatte, dass es sicher sei, seinen Sohn und Erben von dem Provinzplaneten herunterzuholen, hatten die beiden mehr Zeit miteinander verbracht als in Valerians ganzem bisherigen Leben. Doch es war eine unsichere Allianz – zwei derart unterschiedliche Persönlichkeiten würden nie reibungslos miteinander auskommen. Aber sie teilten das gemeinsame Ziel der Wiedererschaffung eines Reiches, das letztendlich an Valerian übergehen sollte, und so wahrten sie im Großen und Ganzen Frieden.

Beide Männer waren selbstsicher, mächtig und katzenhaft: Arcturus war der starke Löwe der Ebenen, Valerian der geschmeidige, lautlose Panther des Dschungels. Sie hatten verschiedene Anschauungen, aber genügend Gemeinsamkeiten, dass es nur wenige Unstimmigkeiten gab.

Und als bekannt zu werden begann, dass es noch mehr dieser Alien-Tempel gab – so bezeichnete Valerian sie für sich, weil das Bild ihn an vergangene Tage großer Zivilisationen erinnerte –, waren sie übereingekommen, dass sie es wert seien, untersucht zu werden. Mengsk senior war dermaßen beeindruckt gewesen von dem, was sich auf Bhekar Ro zugetragen hatte, dass er die Macht der Tempel entweder bändigen oder nutzen wollte. Valerian war sich vorgekommen wie ein Junge, der für ein schönes Mädchen schwärmte – geblendet, verzückt – und näher heran wollte an sie, mehr über sie erfahren, sie berühren und erforschen.

Er hatte seinen Vater überredet, diesmal nicht mit den Marines anzufangen, hatte geschickt und überzeugend argumentiert, dass deren einzigartige Fähigkeiten anderswo gebraucht wurden zum Zwecke des Wiederaufbaus des Dominions und zur Niederschlagung von Aufständen.

»Kommt nicht in Frage«, hatte Arcturus das Ansinnen zunächst abgeschmettert.

»Wir wissen, dass die Artefakte nur für Protoss und Zerg wirklich gefährlich sind«, hatte Valerian dagegengehalten.

»Dieser Junge, der das Ding auf Bhekar Ro aktivierte, wurde davon verschlungen und erst später wieder ausgespuckt«, erwiderte Arcturus.

»Stimmt«, hatte Valerian ohne zu zögern bestätigt. »Aber wir wissen genau, was er getan hat, um diese Reaktion auszulösen.

Das Artefakt lebt – auf gewisse Weise. Es scheint bestimmte psychische Fähigkeiten zu haben. Wenn wir ein leeres dieser Objekte studieren, eines, das dieses seltsame Geschöpf aufgegeben hat, können wir Dinge darüber in Erfahrung bringen, ohne ein Risiko einzugehen.«

Arcturus runzelte die Stirn, seine dichten, dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen und sahen aus wie riesige Raupen, die über seine Haut krochen. »Welchen Sinn sollte es haben, ein leeres zu untersuchen?«, hatte er gefragt.

»Damit gewännen wir das Wissen, wie eines zu handhaben wäre, das nicht leer ist«, antwortete Valerian. »Überleg doch nur, was wir mit einem unversehrten tun könnten… wenn wir verstünden, wie es funktioniert.« Als Arcturus schwieg, hob sein Sohn die Schultern und ließ sich wieder in das butterweiche Sofa zurücksinken. Er zwang sich, einen desinteressierten Eindruck zu erwecken. Sein Herz hämmerte. Er wollte dieses Projekt mehr, als er sonst etwas je im Leben gewollt hatte. Wollte es mit solch verstandesmäßiger Leidenschaft, dass Arcturus, dessen Begierden in einem ganz anderen Bereich lagen, es unmöglich verstehen konnte.

Aber er wusste, dass er seinem Vater nicht zeigen durfte, wie unbedingt er dies wollte. Es wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen. Mochte das Band zwischen ihnen im Laufe der vergangenen Monate auch stärker geworden sein, hatte Valerian doch immer das Gefühl, er balanciere auf einem Drahtseil. Arcturus’ intelligente graue Augen beobachteten ihn unentwegt.

»Du musst zugeben, dass es einen Versuch wert wäre«, sagte Valerian, während er nach einem Stückchen erlesener dunkler Schokolade griff und sich das teure Häppchen in den Mund schnippte. Kauend sagte er: »Und es sieht dir gar nicht ähnlich, zum Wohle der Menschheit kein Opfer bringen zu wollen.«

Arcturus lächelte. Die Worte »zum Wohle der Menschheit« waren, wie sie beide wussten, eine diskretere Umschreibung für »zum Vorteil der Mengsk-Dynastie«.

Früher, davon ging Valerian aus, als sein Vater noch jung und leidenschaftlich gewesen war und das Feuer des gerechten Zorns in ihm gebrannt hatte, mochte der Ausdruck ihm einmal bedeutet haben, wofür er eigentlich stand. Sein Vater war nicht immer ein Zyniker gewesen, hatte seine Mutter ihm erzählt. Arcturus hatte gegen eine Konföderation zu den Waffen gegriffen, die auf feigste Art einen ganzen Planeten vernichtet hatte. Er hatte willentlich ein angenehmes Leben für das unsichere eines sogenannten Terroristen aufgegeben, für ein Leben ohne rote Portweine und feine Schokolade oder antike Schwerter und Behaglichkeit, in die er sich zurückziehen konnte, um der Monotonie des Kämpfens, Fliehens und Taktierens für ein Weilchen zu entgehen. Dass Mengsk letztlich wieder reich geworden war und ein Leben in Luxus führen konnte, war Glück gewesen, und es hatte Zeiten gegeben, da ein solches Ende alles andere als sicher gewesen war.

Insgeheim bewunderte Valerian diesen Mann immer noch. Auf dem Schoße seiner Mutter sitzend hatte er seinen Vater größtenteils nur auf Vidschirmen gesehen und nur so, wie andere ihn sahen – leidenschaftlich, konzentriert, charmant, tödlich. »Das ist dein Daddy«, hatte seine Mutter gesagt. »Wenn du groß bist, wirst du genauso sein wie er.«

Aber es war anders gekommen. Valerian war nur in Gesellschaft seiner Mutter und gepanzerter Soldaten aufgewachsen. Andauernd waren sie umgezogen, damit man sie nicht fand, damit man sie nicht ermorden konnte wie seine Großeltern und seine Tante. Einmal, da war er drei gewesen, hatte es den Anschein gehabt, sie hätten einen sicheren Ort gefunden, einen versteckten, befestigten Stützpunkt tief im umojanischen Protektorat. Fünf Jahre lang waren sie dort in Sicherheit gewesen. Dann war die Nacht gekommen, in der Valerians Mutter ihn aus tiefem Schlaf geweckt hatte, das Haar zerzaust und mit Angst in den Augen. Sie hatte ihn gepackt, ihm eingetrichtert, still zu sein – »Kein Wort, keinen Laut, Val, mein Liebling!« –, und Minuten später waren sie geflohen. Valerian erinnerte sich an das grelle Leuchten von Waffenfeuer in der Nacht und Kampfgeräusche, erinnerte sich, beim Rennen hingefallen und hart zu Boden gestürzt zu sein, um dann von einem Soldaten wieder hochgerissen zu werden, der dazu nicht einmal langsamer geworden war. Val wurde an einen anderen Soldaten weitergereicht, und derjenige, der ihn aufgelesen hatte, drehte sich um und schoss weiter. Im Nachhinein war Valerian schließlich klar geworden, dass dieser namen- und gesichtslose Soldat für ihn und seine Mutter gestorben war. Denn niemand, der nicht im Fluchtfahrzeug gewesen war, hatte überlebt.

Valerian drückte die Augen zu und klammerte sich an seine Mutter, während das Fahrzeug von Treffern geschüttelt wurde. Doch die Piloten, die Mengsk angeheuert hatte, waren gut, und sie schafften es zu entkommen.

»Mami?«, hatte Valerian zitternd gefragt, die Augen groß und mit rasendem Herzen. »Wird Daddy uns jemals zu sich holen?«

»Ja, mein Schatz. Das wird er. Eines Tages.«

Valerian lag Stunden wach, den Kopf in den Schoß seiner Mutter gebettet, und ihre Hände strichen über sein helles, goldfarbenes Haar. Er hörte sie leise weinen und merkte, wie sie versuchte, still zu sein, um ihn nicht noch mehr zu ängstigen, als es in dieser Nacht ohnehin schon der Fall gewesen war. Er tat so, als schliefe er, damit sie dachte, es sei ihr gelungen.

In dieser Nacht und für lange, lange Zeit danach hielt er fest an der Vorstellung, dass sein Vater ein großer Krieger sei, der einen großen, guten Kampf führte, den Valerian zwar nicht ganz verstand, von dem seine Mutter ihm aber immer erzählte, er sei so wichtig, dass Arcturus gezwungenermaßen nicht bei ihnen sein könne.

Doch der Mann, der da vor ihm stand, war zwar immer noch muskulös und von scharfem Verstand, aber nicht mehr der junge Rebell von Korhal.

Genauso wenig, hatte Valerian gedacht, wie ich.

»Ich nehme an, es ist einen Versuch wert«, hatte Arcturus zugestimmt. »Wir können es wenigstens darauf ankommen lassen. Wenn das nicht klappt, probieren wir etwas anderes.« Der Kaiser hatte sein Glas erhoben. »Dann also auf das Wohl der Menschheit«, hatte er seinem Sohn grinsend zugeprostet.

Die nächsten Wochen waren sowohl die schlimmsten als auch die besten in Valerians Leben gewesen. Die schlimmsten, weil immer mehr Meldungen neu entdeckter Artefakte »unbekannten Ursprungs« eintrafen und er noch nichts unternehmen konnte. Die besten, weil er endlich tun durfte, wovon er immer geträumt hatte – Dinge über die fremden Artefakte zu erfahren, die bislang niemand herausgefunden hatte. Der kleine Junge, der um das Haus seiner Kindheit herum im Erdboden herumgestochert hatte, war zu einem Mann herangewachsen, der in der Lage war, diesen Traum in die Tat umzusetzen.

Wenn er nur selbst dabei sein könnte, wenn sie den Tempel betraten!

Er hatte darum gekämpft, aber diesen speziellen Kampf hatte er verloren. Arcturus hatte sich durchgesetzt. Er wollte nicht zulassen, dass sein Sohn und Erbe sich in der Nähe der Artefakte oder der Tempel aufhielt, bis ihre Sicherheit nachgewiesen war – und selbst dann würde er es wahrscheinlich nicht gestatten, hatte er unumwunden erklärt. Es war eine der schlimmsten Auseinandersetzungen überhaupt gewesen, und sie hatte damit geendet, dass sie beide buchstäblich ihre Stühle umgeworfen hatten.

Am Schluss hatte die Tatsache, dass Arcturus nach wie vor das Sagen hatte, den Ausschlag gegeben, und Valerian war gezwungen gewesen, einzulenken.

Valerian zog die Stirn kraus unter der Erinnerung an diesen Streit. Er seufzte, trank noch einen Schluck von dem gelbbraunen Portwein und widmete sein Augenmerk dann weiter dem körnigen, ruckeligen Hologramm.

Er würde schon erleben, wie sein Vater reagierte, wenn eine unglaubliche Entdeckung gemacht wurde. Er lächelte bei dem Gedanken, Arcturus Mengsk sprachlos zu sehen. Es war eine ermunternde Vorstellung.

»Sir?«

Die Stimme gehörte seinem Assistenten. Charles Whittier, ein junger Mann Mitte zwanzig mit einem struppigen roten Haarschopf, der sich nicht bändigen lassen wollte, stand in der Tür und wirkte leicht nervös.

Valerian machte sich deswegen keine Sorgen. Whittier wirkte immer leicht nervös. »Was gibt es, Charles?«

»Professor Jacob Ramsey ist hier, um Sie zu sehen, Sir.«

»Ah!« Valerian lächelte. »Ausgezeichnet. Führen Sie ihn bitte herein.« Er streckte die Hand aus und schaltete das Hologramm auf Pause. Es erstarrte verschwommen, blieb aber verlockend.

Whittier verschwand und kehrte einen Moment darauf mit dem guten Professor zurück. Valerian erhob sich; seine scharfen grauen Augen musterten den Mann schnell und gründlich.

Professor Ramsey maß gut einsfünfundachtzig, aber das war auch schon sein einziges wirklich charakteristisches Merkmal.

Er war von mittlerer Statur, hatte blassblaue Augen, Krähenfüße von zu viel Sonne und sandfarbenes Haar, das zu braun war, um blond zu sein – und zu hell, um brünett zu sein. Er machte jenen leicht zerknitterten, etwas sonnenverbrannten und ein wenig gebraucht und abwesend wirkenden Eindruck, den Valerian inzwischen mit Archäologen assoziierte. Groß oder klein, dünn oder stämmig, Mann oder Frau, sie hatten alle eine gewisse Ähnlichkeit, die Valerian sofort erkannte. Einen Archäologen konnte man für nichts anderes halten als das, was er war.

Jacob – laut der Informationen, die Valerian über den Mann besaß, wurde er gemeinhin »Jake« genannt – wirkte jedoch noch zerknitterter und abwesender als die meisten anderen. Der Blick seiner blauen Augen schoss umher und versuchte den Luxus dieses Raumes zu erfassen, der wahrscheinlich alles übertraf, was er bisher in seinem Leben gesehen hatte, bevor er schließlich auf seinem Gönner zur Ruhe kam.

Valerian lächelte und trat mit ausgestreckter Hand vor… »Professor Ramsey«, sagte er mit einer Wärme, die nicht vorgetäuscht war, »es ist schön, Sie endlich kennenzulernen.«

Ramsey ergriff die ihm dargebotene Hand. »Ebenso… Mr. V.« Wie Valerian es erwartet hatte, war die Hand des Archäologen schwielig und kräftig, die Fingernägel präsentierten sich gebrochen und rissig. Das war ein gutes Zeichen. Valerian hatte inzwischen gelernt, dass Archäologen zwar Handschuhe tragen sollten, dass die besten sie allerdings irgendwann beiseite warfen, weil sie die Dinge, die sie berühren wollten, ohne sie zu beschädigen, mit den bloßen Händen anfassen mussten. Er nahm an, dass er selbst einer von dieser Sorte gewesen wäre.

Seine eigenen Hände waren ebenfalls schwielig, nicht jedoch vom Graben im Boden, wie er es getan hatte, als er jung gewesen war, sondern vom Umgang mit alten Waffen. Er sah, wie Ramsey ob der Festigkeit des Händedrucks des Thronerben eine Augenbraue hob.

»Setzen Sie sich«, sagte Valerian und deutete auf das Sofa, während er zu dem kleinen Tisch mit dem Portwein ging. Ramsey zögerte kurz, dann lächelte er und leistete der Aufforderung Folge. Sein Anzug, zweifellos der beste, den er besaß, wirkte verblichen und altmodisch inmitten der Opulenz des Raums.

Ramseys Blick fiel auf das Hologramm, und seine Augen weiteten sich ein wenig. Er war offenkundig mehr an dem Hologramm des Alien-Tempels, den er mehrere Male gesehen hatte, interessiert, als daran, einen Raum in Augenschein zu nehmen, der so luxuriös war, wie er es wahrscheinlich nie wieder sehen würde. Valerian gestattete sich die Hoffnung, dass dieser Mann derjenige war, nach dem er schon die ganze Zeit gesucht hatte.

»Vielleicht wäre eine Glückwunschzigarre angebracht.« Valerian öffnete einen mit Schnitzereien versehenen Humidor aus Mahagoni. »Bitte, Professor, bedienen Sie sich.«

»Äh, danke, Euer Exzellenz, aber nein, ich rauche nicht. Und bitte, nennen Sie mich Jake.«

Valerian lächelte und schloss den Humidor. »Nur wenn Sie mich Valerian nennen.«

Jake erbleichte. Valerians Lächeln wurde breiter. »Kommen Sie. Wie ich schon in meiner Nachricht sagte, teilen wir eine große Leidenschaft. Titel würden eine Unterhaltung über dieses Thema, das wir so lieben, nur erschweren.«

»Nun gut, Val-Valerian.« Jake stolperte über den Namen.

»Sie rauchen also nicht. Haben Sie gar keine Laster, Jake, oder darf ich Sie zu einem Portwein verführen?«

Jake lachte ein wenig überrascht. »Ich habe in der Tat das eine oder andere Laster, fürchte ich. Und einen Portwein nehme ich gerne. Danke.«

Valerian schenkte sich selbst nach und füllte dann ein Glas für Jake, der einen Sekundenbruchteil lang zauderte, bevor er es annahm. Seine Augen betrachteten das Glas, und Valerian brauchte kein Hellseher zu sein, um Jakes Gedanken zu lesen: Dieses einzelne Glas kostete vermutlich mehr als die gesamte Finanzierung seiner ersten archäologischen Ausgrabung.

»Auf die Entdeckung von Wundern«, sagte Valerian und hob sein Glas. Jake stieß mit ihm an, ganz vorsichtig. Beide Männer nahmen einen Schluck, dann setzte Valerian das Glas ab und drückte einen Knopf auf dem Tisch. Einen Augenblick später trat Charles Whittier ein; er brachte eine kleine Box aus Leder mit, die er seinem Arbeitgeber überreichte.

»Danke, Charles. Jake, dieses Kästchen enthält mehrere Datenchips. Auf einem davon befinden sich Lebensläufe, die ich Sie zu lesen bitten möchte. Diese Personen wurden mir wärmstens empfohlen, und ich glaube, Sie werden feststellen, dass sie uns wertvolle Dienste leisten könnten.«

Jake zögerte, dann sagte er: »Sir…«

»Valerian.«

»Valerian… ich arbeite seit Jahren mit meinem derzeitigen Team zusammen. Die Leute sind durch die Bank zuverlässig, sie arbeiten hart und sind intelligent. Ich habe nicht die Absicht, mich von ihnen zu trennen und, ehrlich gesagt, auch keinen Grund dazu.«

Valerian nickte. »Ich begrüße Ihre Loyalität. Seien Sie versichert, dass ich mich über all Ihre Mitarbeiter gründlich informiert habe, und ich bitte Sie nicht, auch nur einen von Ihnen zu entlassen. Aber werfen Sie einen Blick auf die Leute, um die Sie Ihr Team meiner Meinung nach ergänzen sollten. Ich bin sicher, Sie werden mir zustimmen, wenn Sie das erst einmal getan haben.«

Er lächelte. Jake nickte. Sie verstanden sich.

Gut.

»Außerdem finden Sie einige vertrauliche Informationen, die Sie vor Ihrer Abreise durchgehen müssen und die nur für Ihre Augen bestimmt sind.«

»Ich ziehe es vor, meinem Team nichts vorzuenthalten«, erwiderte Jake. »Wie gesagt, ich arbeite seit Jahren mit ihm zusammen. Ich vertraue ihm.«

Valerian lächelte. »Natürlich. Aber es gibt ein paar Dinge, die Sie für sich behalten müssen, bis ich entscheide, dass es an der Zeit ist, sie preiszugeben. Es handelt sich hier nicht um eine gewöhnliche Ausgrabung, das wissen wir beide.«

Jake schien widersprechen zu wollen. Aber Valerian fuhr fort: »Insbesondere Sie müssten die Bedeutung dessen, was wir hier tun, doch zu schätzen wissen. Und in Anbetracht Ihres letzten Projekts bin ich darüber hinaus sicher, dass Sie die Finanzmittel, die Ihnen zur Verfügung gestellt werden, zu schätzen wissen.«

Jakes Gesicht verfärbte sich, aber er leugnete den Wahrheitsgehalt dieser Worte nicht.

»Sie haben in jüngster Zeit mit Ihrer Theorie darüber…«, Valerian nickte in Richtung des Hologramms, »…für allerhand Aufsehen gesorgt. Verzeihen Sie mir, wenn ich sage, dass ich den Begriff, Spinner’ mehr als nur einmal gehört habe, wenn es darum ging, Sie zu charakterisieren.«

Jake stellte das Portweinglas ab. »Ich möchte nicht respektlos erscheinen, aber haben Sie mich wirklich von Gelgaris hierher fliegen lassen, nur um noch ein paar Beleidigungen draufzupacken?«

Ah, er hatte also doch ein Rückgrat. Das war ebenfalls gut, jedenfalls solange dieses Rückgrat nicht zu unnachgiebig war.

»Natürlich nicht. Im Gegenteil… einer der Gründe, weshalb Sie hier sind, besteht darin, dass ich mit Ihrer Theorie übereinstimme.«

Jakes blaue Augen wirkten erstaunt. »Wirklich? Ich glaube, da sind Sie der Erste.«

»Es ist der einzige logische Schluss, nicht wahr?«, sagte Valerian, sich für das Thema erwärmend. »Dieser… Tempel… stammt sicher nicht von den Zerg. Und dem Wenigen nach zu schließen, was wir über die Architektur der Protoss wissen, haben auch sie nichts damit zu tun. Dennoch weist er einige Merkmale beider Völker auf. Und er wollte nur Protoss und Zerg, keine Terraner. Unsere Spezies interessiert ihn nicht. Oder, wie einige meiner Kollegen glauben, unsere Spezies ist ihm überlegen. Doch wie auch immer, das Muster ist klar – ich glaube, genau wie Sie, dass die Beweise auf die Schlussfolgerung hindeuten, dass die Aliens, die diesen Tempel erschufen, die gemeinsamen Vorfahren sowohl der Zerg als auch der Protoss sind. Das alles… vermittelt einfach so ein Gefühl.« Sein Blick richtete sich wieder auf das Holo.

»Eure Ex… – Valerian… es freut mich wirklich über alle Maßen, dass Sie meiner Theorie zustimmen. Aber es gibt keine Beweise dafür, dass dieses Bauwerk ein Ort der Verehrung war. Damit besteht kein Grund, es als ,Tempel’ zu bezeichnen. Und Relikte vermitteln kein Gefühl.«

»In diesem Punkt würde Ihnen der eine oder andere widersprechen, Professor.«

»Möglich. Ich weiß, dass manche Leute der Ansicht sind, dies sei ein romantischer, aufregender Beruf. Aber in Wirklichkeit ist er nur mit viel harter Arbeit und praktischer Rätsellösung verbunden. Sicher, es ist eine wunderbare intellektuelle Herausforderung, aber unterm Strich bleibt nur sehr wenig Romantik übrig.«

»Wie dem auch sei, ich nenne diese besonderen Bauten gerne Tempel«, erklärte Valerian mit trügerisch sanfter Stimme.

Jake presste die Lippen zusammen, nickte aber. Er hatte Valerians Botschaft verstanden.

»Sie haben genau das, was wir brauchen, um diese Sache zu dem Erfolg zu führen, den wir alle wollen, Jake. Sie verfügen über… besondere Talente ebenso wie über ausgezeichnete Referenzen.«

»Äh… ach ja?« Jake dachte offenbar ganz ehrlich, dass an ihm überhaupt nichts Besonderes war. Das freute Valerian. Also kein Ego, mit dem er sich herumschlagen musste. Ein weiterer Punkt zu Jakes Gunsten. Er nickte und nippte ein weiteres Mal von seinem Portwein.

»Aber ja«, erwiderte er. Er zeigte auf den Behälter. »Es ist alles da drin. Wenn Sie erst einmal Gelegenheit hatten, es zu lesen, werden Sie sicher einige Fragen an mich haben. Aber ich glaube, Sie werden alles verstehen. Sie finden darin übrigens auch eine aufgezeichnete Nachricht an Ihr ganzes Team. Bitte spielen Sie sie erst ab, wenn die Marines abgerückt sind und unmittelbar bevor Sie zur Ausgrabungsstelle aufbrechen. Ich möchte Sie nicht länger aufhalten, schließlich wartet ein Schiff auf Sie. Und denken Sie daran, für alle anderen in Ihrem Team bin ich nur Mr. V.«

Er erhob sich zum Zeichen, dass Jake entlassen war. Dieser leerte sein Glas, stand auf und reichte ihm die Hand. Der Professor wirkte verwirrt, aber zu allem bereit, als er aus dem Raum ging. Valerian folgte ihm einen Moment lang mit seinem Blick, dann wandte er sich wieder dem erstarrten Hologramm zu.

Der Entdeckung von Wundern.

Er berührte einen Knopf und schaute es sich noch einmal an.

Die Gray Tiger war verbeult und verdreckt von Jahren harten Einsatzes, doch der Captain versicherte Jake Ramsey und seinem Team, dass der zerschrammte Schlachtkreuzer vollkommen raumtauglich sei.

Jake musterte den jungen Mann von Kopf bis Fuß, offenbar unsicher, ob damit seine Befürchtungen wirklich ausgeräumt waren. Der Captain war groß und schlank, hatte schmierig blondes Haar und Augen von unbestimmbarer Farbe. Insgesamt wirkte er in etwa ebenso verbeult und verdreckt wie das Schiff, das er befehligte. Unter dem, wovon Jake hoffte, dass es kein Öl war – worum es sich aber wahrscheinlich doch handelte –, war die Haut seines Gegenübers so bleich, als sei sie nie von Tageslicht berührt worden. Dunkle Schmutzränder umgaben seine Augen. Vorgestellt hatte er sich als Captain Robert Mason.

»Die Gray Tiger ist das beste Schiff im Umkreis«, versicherte Mason. »Ich habe schon viele geflogen, aber das hier ist ein echter Schatz.«

Jake beäugte das Gefährt noch einmal und erwartete, jeden Moment das Abplatzen einer Niete oder das Ächzen alten Metalls zu hören.

»Wir haben das schon drei Mal hinter uns«, fuhr Mason fort. »Wir fliegen euch Archäologen sehr gern. Ihr seid friedliche Leute, nicht wahr?« Mason grinste und bleckte dabei schiefe, gelbliche Zähne.

»Meistens«, antwortete Jake und versuchte, nicht an Darius zu denken, hoffend, dass der große Bursche genug Verstand beweisen würde, um mit niemandem von der Crew einen Streit anzuzetteln.

Dann erst erfasste er die ganze Bedeutung von Masons Worten. »Moment – wollen Sie mir sagen, dass Sie das schon einmal gemacht haben? Wo haben Sie die anderen hingeflogen?«

Mason zuckte mit den Schultern. »Kann mich nicht mehr erinnern. Aber wir haben in den vergangenen vier Monaten drei Gruppen von Archäologen abgesetzt.«

»Mit diesem Schiff?«, entfuhr es Jake, noch ehe er die Frage anders formulieren konnte. Masons Lächeln verging, und obgleich Jake keineswegs froh war, sein schiefes, fleckiges Grinsen zu sehen, befand er, dass dieser neue Blick absolut keine Verbesserung darstellte.

»Dieses Schiff fliegt seit sieben Jahren«, versetzte Mason. »Es hat so ziemlich alles durchgemacht und überstanden, was ein Schiff durchmachen und überstehen kann. Nur weil es nicht schön ist, heißt das noch lange nicht, dass es Ihnen nicht Ihren verdammten Arsch zu retten vermag.«

Jake schluckte trocken. »Natürlich«, sagte er höflich.

»Und es ist ja nun auch nicht so, als müsste ich mir wegen euch Weichlingen ’nen Kopf machen«, fügte Mason noch hinzu, dann eilte er die Rampe hinunter und rief seiner Crew Befehle zu.

Jake war davon ausgegangen, dass sein Team das erste sein würde, das auf diese aufregende Reise geschickt wurde – und es war ernüchternd, herauszufinden, dass er nur Nummer vier von wer weiß wie vielen war. Er war schwer enttäuscht, dass Valerian ihm nicht gesagt hatte, dass er nicht dessen erste Wahl war.

Seine Referenzen waren tadellos, das wusste er, obwohl man ihn in der Öffentlichkeit meist als Spinner bezeichnete. Es hatte eine Zeit gegeben, da – nun ja. Die Zeiten ändern sich, dachte er, manchmal still und heimlich, manchmal durch eine Alien-Invasion.

Jake seufzte, während er den Mitgliedern der Crew in ihren alten Kampfanzügen dabei zuschaute, wie sie die Kisten mit der Ausrüstung an Bord schleppten. Er kannte sich nicht besonders gut aus mit Kampfausstattungen, zum Glück nicht. Aber er erkannte, dass diese Anzüge, ebenso wie das Schiff, schon bessere Zeiten gesehen hatten. Sie waren fleckig, beschädigt und offensichtlich nicht mehr tauglich für den ihnen ursprünglich zugedachten Zweck. Aber sie hatten noch immer einen gewissen Nutzen, es wurde nichts verschwendet.

Jake nahm einfach mal an, dass das gut war.

Letztlich zählte ohnehin nur, dass das Schiff sie ans Ziel brachte. Er hatte die Ausrüstung inspiziert, als sie geliefert wurde, und war regelrecht geschockt gewesen ob ihrer Qualität. Sie war so neu, dass sie buchstäblich quietschte, so sauber, dass sie praktisch das Auge blendete; es hatte ihn fast zum Weinen gebracht. Die Fertigbauten waren dem, womit er sich auf Gelgaris begnügen musste, um Lichtjahre voraus, und enthusiastisch hatte er einer ebenso verblüfften wie erfreuten Kendra berichten dürfen, dass sie wahrhaftig funktionierende Toiletten haben würden.

Alles in allem konnte er sich wirklich kaum beschweren. Warum also fühlte er sich so gereizt?

Er zuckte zusammen, als er sah, mit welcher Lässigkeit die Crew die Ausrüstung handhabte, und wünschte ein weiteres Mal, er hätte den Captain nicht durch eine Beleidigung der Gray Tiger gekränkt. Er räusperte sich und wollte gerade darum bitten, etwas vorsichtiger mit den Sachen umzugehen, als er seinen Namen hörte.

»Professor Ramsey?«

Die Stimme klang sanft, aber irgendetwas daran machte deutlich, dass die Sprecherin Gehorsam gewöhnt war. Ramsey drehte sich um – und musste den Blick senken, um dem einer zierlichen Frau von etwa fünfundzwanzig zu begegnen. Sie hatte glänzendes schwarzes Haar, das zu einem Bubikopf geschnitten war, der ein Gesicht wie aus Porzellan umrahmte. Ihre Lippen waren voll und weich und ihre Augen von einem dunklen Blau. Doch wirkten diese Augen kühl und in keiner Weise einladend. Eine Art marineblauer, eng geschnittener Overall lag um ihre schlanke Gestalt. Um ihre Hüften schlang sich ein Gürtel, in dem zwei gefährlich aussehende Slugthrower steckten, die so gar nicht zu ihr passen wollten.

Ramsey blinzelte. »Äh, ja, ich bin Jake Ramsey. Was kann ich für Sie tun?«

Die Frau lächelte und reichte ihm die Hand. »Es geht darum, was ich für Sie tun kann«, sagte sie. »Und was ich für Sie tun werde. Ich bin R. M. Dahl. Leiterin Ihrer Schutzeinheit.«

Jakes Hand schloss sich um ihre wesentlich kleinere, verschlang sie beinahe. Der Griff aber war überraschend fest. »Entschuldigung, meiner was?«

Das Lächeln der kleinen Frau vertiefte sich. »Ich rede von ihren Aufpassern«, sagte sie leichthin. »Sie haben keine Marines herumlungern gesehen, oder?«

»Äh, nein«, stammelte Jake. »Hätte ich denn sollen?«

Sie schüttelte den Kopf, und die Bewegung versetzte ihr Haar, das wie dichte schwarze Seide war, in sanftes Wogen… »Nein. Wir werden Ihnen den Rücken decken, sollten Sie auf irgendetwas Feindliches treffen.«

»Zum Beispiel?«

Dahl hob die schmalen Schultern. »Zerg oder Protoss. Oder einfach nur ein Haufen launischer Terraner, die sich verstecken und nicht gern in ihrer Privatsphäre gestört werden.«

»Ist so etwas denn schon einmal vorgekommen?«

Sie zuckte abermals die Schultern. »Ein- oder zweimal«, sagte sie.

Jake unterdrückte ein Lächeln. R. M. – wofür das auch stehen mochte – war nicht einfach nur klein, sie war winzig. Höchstens fünfzig Kilo schwer. Der Gedanke, dass dieses zarte Ding einen Zerg abwehren sollte, war über die Maßen amüsant.

Sie schien seine Miene richtig zu deuten, denn eine dünne, von Verärgerung kündende Falte erschien auf ihrer ansonsten glatten blassen Stirn.

»Ich hab diesen Scheiß so satt«, sagte sie so ruhig, als spräche sie übers Wetter. »Aber ich sollte inzwischen wohl daran gewöhnt sein. Sie haben die Qualität der Ausrüstung gesehen, die genehmigt wurde. Glauben Sie, er würde jemanden mitschicken, der seinen Job, nämlich all das zu schützen, nicht richtig erledigen kann? Glauben Sie, nur weil ich keine Hardware im Kopf habe und nicht alle dreißig Sekunden Stims einwerfen muss, könnte ich nicht geradeaus schießen?«

Jake hob in einer beschwichtigenden Geste die Hände. »Sie werden in der Nähe eines extrem kostbaren und seltenen Alien-Relikts sein. Ich bin nicht sicher, ob ich möchte, dass Sie oder wer auch immer dort Waffen abfeuern. Ist das wirklich nötig?«

»Unser gemeinsamer Arbeitgeber scheint das zu glauben.«

Gemeinsamer Arbeitgeber? »Davon hat Mr. V nichts zu mir gesagt.«

R. M. schaute sich um, dann trat sie einen Schritt näher und raunte: »Er ist der Thronerbe. Er muss uns nichts sagen, was er uns nicht sagen will.«

Jakes Augen weiteten sich eine Spur, als sie Valerians Titel nannte. Sie bluffte also nicht. Trotzdem… »Das gefällt mir nicht. Er hat mir die Lebensläufe der anderen Mitglieder meines Teams gezeigt. Warum nicht auch Ihren?«

»Vielleicht, weil er dachte, Sie könnten meinen Lebenslauf nicht angemessen beurteilen. Oder mich selbst.«

Das hatte gesessen. Er hatte praktisch keinen Hehl daraus gemacht, dass er glaubte, sie könnte ihren Job nicht angemessen tun. »Es liegt nicht an Ihnen selbst«, sagte er, »es ist – ich will überhaupt keinen von Ihnen.«

Er wünschte, er hätte die Worte ungeschehen machen können, kaum dass sie ihm über die Lippen gekommen waren. Aber es war natürlich schon zu spät.

»Professor, ganz gleich, wie wenig Sie uns mögen, letztendlich würden wir doch unser Leben geben, um Ihres zu retten. Sorgen Sie nur dafür, dass Sie uns dabei nicht im Weg stehen und uns an unserem Job hindern.«

Sie drehte sich um und schritt davon. Ein paar Sekunden später drängten sich eine andere Frau und drei Männer, die Jake nicht kannte, an ihm vorbei – wahrscheinlich Angehörige von Dahls Sicherheitsteam –, die sich gegenseitig anstießen und ihm auf eine Weise zugrinsten, die er nicht interpretieren konnte.

Einen Augenblick lang stand Jake alleine da. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er die Sache falsch angegangen war… und zwar in jeglicher Hinsicht und absolut jedem gegenüber.

KAPITEL 3

Jake hatte sich noch nie in der Gesellschaft so vieler Marines befunden, und er musste zugeben, dass sie ihm Unbehagen einflößten. Selbst ein unbeschwerter Mensch und nun wieder optimistisch angesichts der Aussicht auf die Ausgrabung des »Tempels«, erkannte er, dass es nicht die Freundlichkeit einiger war, die ihn entnervte. Und da er auch schon hinreichend mit wortkargen und verdrossenen Leuten – Darius kam ihm da in den Sinn – zusammengearbeitet hatte, wusste er, dass es auch nicht am herablassenden und bisweilen feindseligen Verhalten der anderen, weniger geselligen Marines lag.

Nein, es war das Wissen, dass die Nettesten an Bord des Schiffes einst zu derart schändlichen Verbrechen fähig gewesen waren, dass Jake der Schweiß ausbrach, wenn er nur daran dachte.

Marcus Wright war so einer. Aber er sah wenigstens auch so aus, fand Jake, als der groß gewachsene Mann ihn kurz durch das Schiff führte. Und es bedurfte keiner besonders lebhaften Fantasie, sich vorzustellen, wie diese raue Stimme, heiser vom Zigarettenrauchen seit er zehn war, Drohungen knurrte, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen.

Marcus Wright, so hatte Kendra Jake flüsternd erzählt, hatte gefoltert, getötet und sieben Menschen gefressen, bevor man ihn geschnappt hatte.

Wright war fast zwei Meter groß und wog über hundert Kilo, die sich aus purer Muskelmasse zusammenzusetzen schienen; er hatte kurz geschorenes, blassgelbes Haar, Augen von verwaschenem Blau und eine Narbe, die von der Schläfe bis zum Kieferknochen reichte.

»Wir transportieren gerne Wissenschaftler«, sagte Wright mit einer Stimme, die sich anhörte, als gurgelte er mit Glasscherben. Er lächelte, in seinen wässrigblauen Augen leuchtete Freude, und seltsamerweise glaubte Jake ihm. »Wir sind natürlich zum Kämpfen ausgebildet. Das ist unser Job. Aber ich für meinen Teil habe nichts dagegen, wenn auf einem Flug mal nichts passiert.«

Er drückte mit einer tellergroßen Hand eine Tür auf. »Das ist die Messe«, sagte Wright. »Die Kombüse ist immer offen, sollten Sie spät nachts noch Appetit bekommen.«

Jake blinzelte ob des Wortes »Appetit«, und er fragte sich, ob es von der Resoz herrührte oder etwas war, das Wright durch den Kopf gegangen war, als er sich zum Verspeisen seines jüngsten Opfers niedergelassen hatte. Er fragte sich außerdem, ob in diesem ausgeschrubbten Gehirn noch so viel von Wrights alter Persönlichkeit übrig war, um ihn die Ironie in der Tatsache erkennen zu lassen, dass der Speiseraum der erste Ort war, den er dem Gast an Bord des Schiffes zeigte.

Und er fragte sich, wie gut die Resoz unterm Strich wirklich funktionierte.

»Danke«, brachte Jake hervor. »Werde ich mir merken.«

Das Gefährt, einst ein stolzes Kriegsschiff, war umgebaut worden, damit es eine große Menge von Zivilisten und Fracht transportieren konnte. Man hatte Wände hochgezogen, die große Räume in kleinere Schlafquartiere für die einunddreißig Leute, die zu Jakes Team gehörten, unterteilten; als Betten dienten jedoch immer noch Militärpritschen, und sie schliefen zu acht in einem Raum. Die Ausrüstung des Teams – die wahrscheinlich mehr wert war als das ganze Schiff, dachte Jake – war sorgfältig in den Frachträumen verstaut.

So zerschrammt und spartanisch sie auch sein mochte, wenn es sein musste, konnte die Gray Tiger ohne Zweifel immer noch brüllen. Die Waffensysteme schienen auf dem neuesten Stand zu sein, soweit Jake das beurteilen konnte. Einmal hatte Jake auch einen Blick in einen Raum geworfen, in dem Kampfanzüge, die sehr viel weniger abgerissen aussahen als diejenigen, die die Crew getragen hatte, um die Fracht an Bord zu schaffen, wie große Fleischstücke an Haken hingen.

Er wunderte sich, dass sein Gehirn immerzu in Bildern dachte, die mit dem Schlachten zu tun hatten.

»Spielen Sie Poker?«, fragte Wright.

Er spielte – und für gewöhnlich gewann er sogar. Karten zu zählen fiel ihm so leicht, dass er sich bewusst dazu anhalten musste, es nicht zu tun.

In Anbetracht dessen hatte er jedoch keine Lust, sich an einem Glücksspiel mit Leuten zu beteiligen, die einst keine Skrupel hatten, andere Menschen zu quälen, zu töten und sogar zu fressen.

»Äh, nein, leider nicht«, stotterte Jake.

Marcus lächelte sanft. »Schade«, sagte er.

»Ich spiele«, erklang hinter Jake eine kühle Frauenstimme, und er erstarrte.

Marcus lachte – ein tiefes, dröhnendes Geräusch. »Verdammt, ich weiß, dass du spielst, R. M.«, sagte er. »Aber wir wollen dich nicht mehr am Tisch haben.«

»Warum nicht?«, fragte Jake wie von selbst.

»Die kleine Lady macht einen gerne glauben, dass sie völlig harmlos und süß ist«, sagte Marcus in immer noch heiterem Ton.

»Aber dann knöpft sie einem alles ab, was man hat. Vergessen Sie das nicht, Jake. Und du R. M. sei nett zu Jake.«

R. M. tat so, als schmolle sie, wobei sie ihre vollen Lippen so verzog, dass Jake beinahe einen Herzschlag bekam.

»Jetzt hast du mir den ganzen Spaß verdorben, Marcus«, sagte sie. Sie zwinkerte ihm zu, und das rührte selbst in diesem riesenhaften Mann, in diesem Mörder und Kannibalen etwas an. »Aber du hast Recht. Zu dumm, dass ich mich darauf gefreut habe, den guten Professor zu schröpfen.«

Sie ging zielstrebig den Korridor hinunter. Ihre Schritte schepperten auf dem Boden. Die beiden Männer beobachteten das geschmeidige Muskelspiel ihrer Beine und ihres Hinterns unter dem marineblauen Overall.

Jake wünschte sich auf einmal, dass Marcus derjenige sei, der mitkam, um auf sie aufzupassen – und nicht R. M. Dahl.

»Die wird uns Ärger machen«, sagte Jake mit einem Seufzen, als R. M. außer Hörweite war. Er dachte an Darius und die anderen Männer des Teams – und an eine oder zwei der Frauen.

»Pah«, erwiderte Marcus. »R. M. macht doch keinen Ärger. Sie unterbindet ihn.«

*

An diesem Abend beim Essen hatte Jake Gelegenheit, festzustellen, dass Valerian Mengsks Großzügigkeit gegenüber den Archäologen, die er angeworben hatte, beim Proviant an ihre Grenzen stieß. Wehmütig dachte er an den die Zunge umschmeichelnden Portwein, als er sein Essen betrachtete. Fertigmahlzeiten aus Militärbeständen, die aus der Anfangszeit der Konföderation stammten, wurden irgendwie erhitzt – wahrscheinlich mittels einer Firebat – und auf einen hässlichen grauen Teller geklatscht. Die Marines aßen mit Genuss, schaufelten sich das Pseudo-Essen in den Mund, lachten und erzählten sich derbe Witze. Jake hingegen stocherte in seinem Häufchen aus graugrünem Etwas mit graubraunem Etwas als Beilage herum. Auf den Nachtisch, etwas, das sie »schokoladige Überraschung« nannten, verzichtete er ganz.

Ihm war nicht nach einer weiteren Überraschung zumute.

Und er war dankbar für die Ablenkung, die ihm das Kennenlernen der neuen Teammitglieder bot. Jake hatte nach einem Grund gesucht, die Männer und Frauen abzulehnen, die Valerian vorgeschlagen hatte. Aber er musste zugeben, dass ihre Referenzen hervorragend waren. Er freute sich sogar auf die Zusammenarbeit mit ihnen.

Antonia Bryce, Owen Teague und Yuri Petrov hatten nicht das verwitterte Aussehen, das Jakes Team eigen war, aber schließlich hatten sie bisher auch gemütlichere Aufträge gehabt. Ungelenkes Bekanntmachen schlug bald um in lebhafte Gespräche, und Jake entwickelte neues Vertrauen in Valerian. Gute Ausrüstung, gute Leute – es sah so aus, als würde alles in Ordnung sein.

Zwei der ihnen zugeteilten Ärzte, Chandra Patel und Eddie Rainsinger, konnten ebenfalls perfekte Referenzen vorweisen. Die Archäologie mochte zwar nicht der gefährlichste Job des Universums sein, aber es kam schon mal zu Bein- oder Armbrüchen, ebenso zu Infektionen, Tierbissen und Erfrierungen. Und wer wollte auch nur einen Tag länger krank sein, als es unbedingt sein musste?

Die Tatsache, dass Patels Augen aufleuchteten, als sie über das fremde Gebilde sprachen, war alles, was Jake brauchte. Obwohl es nicht ihr Fachgebiet war, wusste die gute Frau Doktor offenbar genug darüber, dass sie sich nicht zu Tode langweilen würde bei diesem Auftrag, der… nun, von dem niemand wusste, wie lange er dauern mochte.

Jake gegenüber und ein paar Plätze weiter links saß R. M. die schweigend aß, obgleich es offenkundig war, dass sie der Unterhaltung Wort für Wort folgte. Die Abneigung, die Jake für sie empfand, war überraschend stark, und das wunderte ihn. Er hatte noch nie ein Problem damit gehabt, beruflich mit Frauen auszukommen, aber an dieser störte ihn irgendetwas.

Doch das war nicht fair von ihm, oder? Sie musste tun, was ihr aufgetragen wurde, genau wie er. Es war nicht ihre Schuld, dass sie und ihr Team aus angeheuerten Schlägertypen mit seinem Schutz betraut worden waren. Valerian hatte dafür gesorgt.

Aber Valerian war nicht hier. R. M. war hier, und Jake ließ seinen Ärger an der falschen Person aus.

Und, das musste er zugeben, sie sah umwerfend aus. Er hatte noch nie mit einem Menschen zusammengearbeitet, weder Frau noch Mann, der umwerfend aussah, und er befürchtete, dass sie den einen oder anderen aus seinem Team ablenken könnte. Verdammt, Jake, gestand er sich ein, du befürchtest, sie könnte dich ablenken.

In diesem Moment drehte R. M. langsam den Kopf und sah ihm genau in die Augen. Ertappt, erwiderte Jake den Blick einfach nur. Die Andeutung eines Lächelns bewegte ihre vollen Lippen, dann teilten sie sich, um eine Gabel voll graugrüner Pampe einzulassen.

Jake seufzte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Unterhaltung.

Das würde ein langer Job werden.

*

Nemaka war, offen gestanden, einfach ein riesiger Brocken Fels ohne Atmosphäre. Und nicht einmal ein besonders interessanter Felsbrocken ohne Atmosphäre.

Selbst aus geologischer Sicht hatte er nichts Einzigartiges, und was ein paar Lebewesen einst auf ihm entwickelt hatten, war auch auf etwa zehn anderen Welten zu finden. Jake hatte die Berichte gelesen und erwartete deshalb nicht mehr.

Denn hätte es sich nicht um einen Felsbrocken gehandelt und hätte Nemaka irgendwelche Verheißungen bereitgehalten, die auf… nun, auf irgendetwas hinwiesen, dann wäre der Planet längst erkundet worden, und die Chance, »Wunder zu entdecken«, wie Valerian es nannte, wäre dahin gewesen.

Aber Nemaka hatte als Planet nichts zu bieten, was Terraner – oder irgendeine andere intelligente Spezies – angelockt hätte.

Bis auf die unbekannten Wesen natürlich, die einen Tempel hinterlassen hatten.

»Das Konstr… – der Tempel ist noch nicht zur Gänze ausgegraben«, sagte er seinem Team, nachdem sie sich in einem großen Raum versammelt hatten, der einst Transportschiffe beherbergte und jetzt von höhlenartiger Leere war. Er verzog leicht das Gesicht, als er den Begriff verwendete, auf den Valerian beharrte, zwang sich aber, sich daran zu gewöhnen, damit er ihm ein bisschen natürlicher über die Lippen kam.

Er hatte den Captain dazu bewegen können, ihn ein Vidsystem aufstellen zu lassen, und nun benutzte er den Raum als Ort der Zusammenkunft für sein Team. Sie hatten schon ein paar Briefings hinter sich, und alle hatten dieselben Berichte studiert, die auch Jake gelesen hatte (bis auf diejenigen natürlich, die er auf Valerians Wunsch für sich behalten sollte). Aber nun, da sie in ein oder zwei Tagen landen würden, wollte Jake alle instruieren und heißmachen auf die Ausgrabung.

Der »Konferenzsaal« war nicht bequem. Es gab keine Stühle, daher brachten alle ihre flachen und/oder klumpigen Kissen mit, um darauf zu sitzen. Heute hatte Jake etwas Besonderes für sie. Außerdem verstieß er ein wenig gegen Valerians Anweisungen, seinem Team nichts über bestimmte brisante Dinge zu verraten.

Jake Ramsey wusste diesen Auftrag zu schätzen, und er respektierte Valerian. Aber sein Team verdiente es zu wissen, was vor ihnen lag. Er wartete, bis alle Platz genommen hatten, dann nickte er Sebastien, Tom und Aidan zu, die alle drei zu R. M. gehörten. Sie erwiderten das Nicken und traten vor die Tür, um dafür zu sorgen, dass dieses Briefing nicht von Marines gestört wurde, die keine Ahnung hatten, wer Mr. V war.

»Heute habe ich gute und schlechte Nachrichten über die Ausgrabung auf Nemaka«, begann er. »Erst die gute: Es gibt nicht viele visuelle Informationen über Nemaka, abgesehen von den Daten, die vor etwa fünfzehn Jahren gesammelt wurden, als der Planet entdeckt wurde. Dabei handelt es sich in der Regel um sehr oberflächliche Unterlagen, zusammengestellt von desinteressierten Marines – Leuten, die nur ihren Job machen und mit einer Kamera herumfuhrwerken. Und das ist auch hier der Fall. Moment mal… das klingt ja wie die schlechte Nachricht, oder?«

Darius lachte, ebenso ein paar andere. Jake grinste. »Und so ist es auch. Aber die gute Nachricht ist, dass dieser gelangweilte Kameramann von damals ein paar Bilder von unserem nächsten Projekt eingefangen hat… oder jedenfalls davon, wie unser Projekt vor fünfzehn Jahren aussah.«

Er aktivierte das Holo, und Stille senkte sich über den Raum. Jake hatte diese Aufnahmen natürlich schon gesehen; er hatte sich alles, was Valerian ihm gegeben hatte, angesehen, sobald er Zeit dazu gefunden hatte.

Es war geradezu übelkeitserregend offensichtlich, dass der Mann die Kamera über den Tempel geschwenkt hatte, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was er da sah oder wie bedeutsam es war. All die unersetzliche Zeit, die deswegen verloren gegangen war…

Dieser Tempel hätte schon vor Jahren ausgegraben werden können, auf das allererste Anzeichen außerirdischen intelligenten Lebens hin. Doch das Video hatte irgendwo herumgelegen und Staub angesetzt, bis Valerian es irgendwie entdeckt, an sich genommen und herausgefunden hatte, worum es sich dabei handelte.

Eine Vorstellung, die sowohl Jake als auch seinen Auftraggeber anwiderte.

»Oh, aufhören, bitte!«, heulte Kendra, als sie sah, dass dieser Idiot vor fast zwanzig Jahren nicht einmal mit der Kamera auf diesem seltsamen, wunderschönen, grün leuchtenden Ding verweilt war, sondern nur rasch darüber schwenkte.

Jake teilte ihre Pein. »Pause«, befahl er der langsam ablaufenden Aufzeichnung. Er berührte die Konsole und nahm einen verschwommenen kleinen Punkt aufs Korn. »Vergrößern.« Der Punkt wurde größer.

Selbst angesichts dieses undeutlichen Bildes beschleunigte sich Jakes Herzschlag ein wenig. Es war wie verschleiert, wirkte verwaschen, und trotzdem fand er es schön. Er konnte es kaum erwarten, es mit eigenen Augen in natura zu sehen. Dem leisen Murmeln nach zu schließen, empfanden seine Leute dasselbe.

»Das ist unsere Ausgrabungsstätte«, eröffnete er ihnen.

»Verdammt, was haben wir doch für ein Scheißglück«, sagte Darius mit zitternder Stimme. Jake grinste ihn an. Das, so überlegte Jake, war der Grund, warum er es die letzten zehn Jahre mit Darius ausgehalten hatte – weil sich unter dem barschen Äußeren ein Geist verbarg, der die Macht alter Technologie und Artefakte verstand. Man musste sich nur ein wenig durch all den Unrat wühlen, um zu diesem Geist vorzudringen. Naja, räumte Jake in Gedanken ein, durch eine ganze Menge Unrat.

»Darius hat Recht«, sagte Jake, »auch wenn er es auf seine wie üblich sehr blumige Art ausgedrückt hat. Wir haben die beste Ausrüstung, die es gibt, und dokumentieren alles, was wir finden. Man hat mir gesagt, dass die Atmosphäre-Generatoren das Neueste vom Neuen sind. Das heißt, sobald wir uns eingerichtet haben, werden wir ideale Arbeitsbedingungen haben. Nach der langen Zeit auf Gelgaris werdet ihr das sicher begrüßen – ich werd’s auf jeden Fall.«

Er grinste ihnen zu, und sie grinsten zurück. Das Leben war schon komisch. Auf einmal konnten sie lachen über die erbärmlichen Bedingungen, unter denen sie so lange gestöhnt hatten.

»Ich freue mich im Grunde, dass dieser spezielle Tempel zum größten Teil noch vergraben ist«, fuhr Jake fort. »Wir werden ihn selbst freilegen können, was bedeutet, dass es an uns ist, ihn nicht zu beschädigen.«

»Ich dachte, nichts könnte ihn beschädigen«, erklang im Hintergrund eine kühle Stimme. Jake wandte den Blick vom Vidsys ab, und er sah R. M. Dahl am Eingang des Raumes stehen. Sie lehnte am Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie hatte nicht geschrien, aber ihre Stimme war dennoch gut zu hören.

Sie ist es gewohnt, Befehle zu erteilen, erkannte Jake.

»Ja«, sagte Eddie Rainsinger. »Ich habe gehört, diese Dinger könnten den direkten Beschuss mit einer Kernwaffe aushalten – und die Kraft dann für sich selbst nutzen.«

Jake nickte. All das war für sein Team nichts Neues, aber Dahl und die Ärzte hatten noch nicht viel darüber gehört. »Das ist wahr. Und ja, unsere Werkzeuge werden ihm wahrscheinlich nicht einmal einen Kratzer beibringen. Nichtsdestotrotz, wer das Risiko eingehen möchte, das Ding zu beschädigen, der soll die Hand heben«, sagte Jake.

Ein Lachen ging durch die Menge, und natürlich hob niemand die Hand.

»Das dachte ich mir. Ich ziehe es vor, derjenige zu sein, der es anstelle von Mutter Natur aus der Erde holt.«

»Wenn ich eine Frage stellen dürfte, Prof«, sagte Daril und trat näher. »Ich weiß nicht viel über diesen Tempel oder diese Ausgrabung, aber ich habe recherchiert, weil es zu meinem Job gehört, der darin besteht, für Ihre Sicherheit zu sorgen. Das Artefakt ist gefährlich. Soweit ich es verstehe, hat es auf Bhekar Ro jemand versehentlich aktiviert und ist dann verschwunden. Wie wollen Sie verhindern, dass das auch diesmal passiert?«

»Nun… das bringt mich zu der schlechten Nachricht, von der ich schon gesprochen habe. Obwohl ich als Archäologe nichts lieber täte, als einen Tempel freizulegen, in dem das darin lebende Energiewesen noch unversehrt ist… ist das Artefakt auf Nemaka bedauerlicherweise verblasst. Was immer darin gewesen ist, es ist längst verschwunden. Der obere Teil des Dings wurde abgesprengt und stellt keine Gefahr mehr dar. Aber ich bin sicher, dass sich noch immer vieles darüber in Erfahrung bringen lässt, und ihr werdet euch an mir vorbeidrängeln müssen, wenn ihr Gelegenheit haben wollt, eure Nase selbst hineinzustecken.«

R. M. wirkte etwas verstimmt. »Ich verstehe. Ich war der Annahme, dass dieser Auftrag etwas gefährlicher sein würde, als er es wahrscheinlich sein wird.«

»Sie sagen das so, als wäre das schlecht«, warf Kendra ein und drehte den Kopf, um die andere Frau anzugrinsen. R. M. grinste zurück.

»Aus meiner Sicht ist dem auch so. Vielleicht werde ich den Prof aus dem Weg drängeln. Meine Nase in den Tempel zu stecken würde mich wenigstens nicht ganz zur Tatenlosigkeit verdammen… Aber vielleicht liegt Jake ja auch vollkommen falsch, und dieses Ding hat doch noch ein paar Tricks auf Lager.«

»Bestimmt nicht. Jede Gefahr, die dieses Ding darstellt, verschwand mit dem Energiegeschöpf. Ich fürchte, Sie und Ihr Team werden sich etwas langweilen, R. M.«

Er ließ seine Erwiderung bewusst schnodderig klingen, weil er sein Team nicht beunruhigen wollte. Aber die Frau, deren Auftrag es war, ihn zu beschützen, hatte einen verdammt guten Einwand gebracht.

Was würde sein, wenn sie falsch lagen?

KAPITEL 4

Die ersten beiden Transportschiffe, bis zum Rand vollgestopft mit teurer Ausrüstung, waren bereits gestartet, als Jake und sein Team in ihre stiegen. Ein großer Teil der Vorbereitungen und des Aufbaus war bereits im Gange, aber Jake freute sich darauf, wenigstens ein wenig davon mitverfolgen zu können. Die Mechaniker des Teams waren mit den Marines schon unten. Alle trugen Schutzanzüge, und es standen sechs Ersatzanzüge zur Verfügung. Jake war an die ungelenken, unbequemen Dinger gewöhnt, aber das hieß nicht, dass er sich wohl darin fühlte.

Nemaka hatte einmal eine Atmosphäre besessen, vor Tausenden von Jahren. Ein gewaltiger Meteor hatte sie zerstört. Der Krater war aus dem All zu erkennen, sein Durchmesser betrug fast zweihundert Kilometer.

Jake konnte ihn ganz genau sehen, als der Pilot sie hinunterbrachte. Die Feldgeneratoren maßen einen Meter mal anderthalb und wogen über eine Tonne. Die Marines sahen in ihren klobigen Kampfanzügen und mit ihren SCVs – Space Construction Vehicles – wie Spielzeuge aus. Aber sie erfüllten eine Aufgabe, die den Unterschied zwischen Leben und Tod für diejenigen bedeutete, die zurückbleiben würden.

Graham O’Brien, ein gut aussehender junger Mann mit roten Haaren und Sommersprossen, teilte ihnen mit, dass sie ganz in der Nähe des Tempels landen und dann den Perimeter, den die Atmosphäre-Generatoren setzten, übertreten würden. Dabei machte er einen außerordentlich gelangweilten Eindruck.

»Wollen Sie nicht rauskommen und es sich ansehen?«, fragte Kendra und lächelte ihm zu. Arme Kendra, dachte Jake. Schon wieder steckte sie irgendwo im Nirgendwo fest und hatte niemanden außer dem ihr vertrauten Team. Er konnte ihr nicht verübeln, dass sie es noch ein letztes Mal versuchte.

O’Brien lachte. »Ganz bestimmt nicht«, antwortete er. »Das ist schon das dritte von diesen Dingern, das ich gesehen habe. Beim ersten Mal war es ja noch interessant, aber danach…«

Kendra seufzte.

Seinen Mangel an Begeisterung für die Architektur einer fremden Rasse glich O’Brien mit seinen Fähigkeiten als Pilot mehr als aus. Der Flug verlief glatt und ereignislos, und die Landung war so weich, dass Jake eine Sekunde brauchte, um zu realisieren, dass sie sich nicht mehr bewegten.

Jeder versuchte ruhig und desinteressiert zu wirken. Keinem gelang es. Jake verbiss sich einen Anflug kindischer Enttäuschung, als er beim Aussteigen nicht der Erste war. Er bewegte sich unbeholfen in seinem Anzug und drehte sich mit seinem ganzen Körper, um einen ersten richtigen Blick auf das Relikt zu werfen, das ihn zu dieser weiten Reise veranlasst hatte.

Dutzende, vielleicht Hunderte von Kristallen umgaben das Artefakt. Sie ragten in alle Richtungen wie Schwerter empor und fingen das grelle Sonnenlicht ein, sodass ihr Leuchten die Augen flimmern ließ. Aber so schön sie auch sein mochten, sie interessierten Jake nicht. Seine Aufmerksamkeit galt dem wunderbaren Objekt in ihrer Mitte. Es war nur eine Seite sichtbar, aber mehr brauchte er auch nicht, um bestätigt zu sehen, dass es in der Tat dunkel war.

Es sah tot aus, wie ein abgeworfener Insektenpanzer. Es besaß keine systematische Form oder Struktur; es wand und verdrehte sich auf labyrinthische Weise in sich selbst und wies etliche Löcher auf. Die Oberseite war gezahnt und rau und stand in krasser Disharmonie zum Rest des Gebildes.

Dort also war das seltsame Energiewesen hervorgebrochen.

Wie alt mochte es sein? Jake war nicht einmal sicher, ob er das auch nur ansatzweise begreifen konnte. Er wusste nur, dass er sich damit begnügen musste, es anzustarren… hätte er nicht so darauf gebrannt, es zu berühren.

Er blinzelte, erwachte aus dem Rausch, der ihn erfasst hatte, und spürte, wie sich sein Gesicht erhitzte, als er R. M. sah, die ihn mit einem amüsierten Lächeln beobachtete.

Er konnte sich nicht erinnern, jemals etwas mehr gewollt zu haben, als loszugehen und dieses Artefakt auf der Stelle zu erkunden. Aber das war nicht möglich. Alle Fahrzeuge waren im Einsatz, und da der einzige geeignete Ort für das Basislager einige Meilen entfernt lag, war es zu Fuß zu weit. Die Marines waren noch dabei, den Perimeter zu setzen, der die bewohnbare Zone markieren würde, und Jake schaute ungeduldig zu, wie sich einer der Generatoren selbsttätig im Boden verankerte und ein leises Summen von sich gab.

Er beschäftigte sich damit, die Karte zu studieren, die er angelegt hatte und auf der die Baustellen eingezeichnet waren, um die SCVs entsprechend zu leiten. Er sah zu, wie sie davonwalzten, und stellte sich vor, wie es sein würde, zum ersten Mal in seinem Leben bei einer Ausgrabung einen anständigen Platz zum Schlafen zu haben.

»Es ist Zeit fürs Feuerwerk, meine Damen und Herren«, ertönte eine vertraute raue Stimme. Marcus Wright klang fast kindisch aufgeregt. »Halten Sie Ihre Hüte fest.«

In diesem Augenblick drückte irgendwo irgendjemand irgendetwas – Jake nahm an, dass die Techniker die richtigen Begriffe dafür kannten und ihn beim Abendessen ins Bild setzen würden –, und es gab ein plötzliches, grelles Aufleuchten.

Jake schloss automatisch die Augen und öffnete sie wieder in einer Welt hellen Blaus. Über ihm wölbte sich eine Kuppel, die beinahe die Farbe des Himmels auf der Erde hatte. Die Schutzkuppel leuchtete und pulsierte langsam. Er lächelte. Jetzt dauerte es nur noch vier Stunden, bis die Atmosphäre hergestellt war, und während es danach zwar noch ein paar Stunden lang kalt sein würde, konnten sie ihre Schutzanzüge doch gefahrlos ablegen. Wenn sie Glück hatten, würde in den nächsten achtzehn Monaten niemand von seinem Team mehr einen anlegen müssen; erst dann nämlich würde ein Schiff mit neuen Vorräten kommen.

Es waren lange vier Stunden, aber sie nutzten die Zeit, um das Camp aufzuschlagen. Schließlich erklang Marcus’ Stimme von Neuem in seinem Ohr. »Sie können Ihre Anzüge jetzt ausziehen«, sagte er.

Jake begann damit und sah, dass sein Team dasselbe tat. Er holte Luft – kalt und trocken, aber atembar. Marcus lächelte ihn sanftmütig an.

»Sie werden sich daran gewöhnen«, sagte er. »Im ersten Monat werden Sie immer mal Nasenbluten haben, aber das gibt sich mit der Zeit.«

Eine blutende Nase war keine angenehme Aussicht, aber es war immer noch besser als das, was denjenigen erwartete, der es wagte, die schützende Atmosphäre zu verlassen. Jake nickte, leicht schaudernd, aber von Erregung erfüllt. Das Team schaffte die Anzüge ins Lagerhaus und hängte sie sorgfältig auf. Als auch der Letzte seinen Anzug verstaut hatte, sah Jake sich um und in gespannte Gesichter.

Darauf hatten sie lange gewartet. Ein Schritt war noch zu tun, dann konnten sie sich alle in ihre Fahrzeuge quetschen und losziehen, um dieses erstaunliche Relikt, das ihrer harrte, endlich mit eigenen Augen zu sehen und anzufassen und zu erfahren.

Die Marines, die sie begleitet hatten, zogen ihre Kampfanzüge aus, winkten und gingen zurück zu den Transportschiffen. Marcus Wright drängte sich durch die Menge, um Jakes Hand mit knochenzermalmender Kraft zu umfassen.

»Ich wünsche Ihnen viel Glück, Professor«, sagte Marcus vollkommen aufrichtig. Jake lächelte ihn weiter an, wohlwissend jedoch, dass das Lächeln infolge des Händedrucks des Riesen immer mehr zur Grimasse geriet.

»Danke, Marcus«, erwiderte er und versuchte, nicht vor Erleichterung aufzukeuchen, als der Mörder ihn endlich losließ. Den Schmerz in seinen misshandelten Fingern ignorierend, verfolgte Jake den Abzug der Marines und verspürte dasselbe Gefühl wie immer, wenn es soweit war – Erleichterung und einen Anflug von Bedauern.

Die Marines nahmen die letzten Reste von Zivilisation mit sich, und nun war das Team ganz auf sich gestellt. Im Notfall konnten sie natürlich jemanden kontaktieren und man würde Hilfe schicken. Aber bedachte man, wie weit vom Schuss Nemaka lag, würde es mindestens Tage dauern, bis Hilfe eintraf, selbst wenn sie bereits Stunden nach dem Notruf entsandt wurde.

Aber zugleich behagte es Jake auch stets, wenn er mit seiner kleinen »Familie« von Archäologen endlich allein war. Unter ihnen herrschte eine Kameradschaft und Vertrautheit, die er nirgends sonst im Leben kennengelernt hatte.

Momentan fühlte er sich wie der König des Universums. Sein Team war aufgeregt. Das Basislager war luxuriös im Vergleich zu allem, was sie bisher erlebt hatten. Der Tempel erwartete sie.

Und seine Hand erholte sich von Wrights über die Maßen heftigem Abschiedsgruß.

Mit hoch erhobenem Kopf schritt er zum Kommunikationszentrum, erfüllt vom tiefen, beruhigenden Gefühl der Zielstrebigkeit. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich die Brauen von R. M. schwarz und geschwungen wie die Flügel eines Raben, in überraschtem Respekt vor diesem veränderten Auftreten seinerseits hoben.

Gut. Vielleicht konnten sie jetzt aufhören, einander zu umkreisen. Er wollte sich wirklich nicht mit ihr streiten.

Pas Kommunikationszentrum war eines der ersten Gebäude, die von den Marines errichtet worden waren, und Jake versuchte, nicht überrascht zu wirken angesichts der Unmengen blinkender Lichter, Drähte, glänzender leerer Monitore, Konsolen und Knöpfe. Das Meiste davon, stellte er fest, war tragbar, und ein leiser Schauder der Erregung lief ihm über den Rücken.

Genau wie Valerian bedauerte auch er, dass man auf Bhekar Ro nicht mehr aufgezeichnet und dokumentiert hatte. Aber zu solch fast schon krimineller Nachlässigkeit würde es nie wieder kommen. Jakes Team hatte alles, was man brauchte, um diesen Augenblick der Menschheitsgeschichte sorgsam für die Nachwelt festzuhalten.

Teresa Baldovino, die Cheftechnikerin, warf ihr langes dunkles Haar zurück und lächelte ihm zu. Sie genoss diesen Aspekt ihres Auftrags noch mehr als er.

»Ich bin bereit, wenn du es bist, Jake«, sagte sie.

Er atmete tief ein und nickte. Sie berührte einen Knopf, und ein Holo von Valerian erschien. Alle sahen gespannt darauf. Nur Jake und R. M. hatten den Thronerben persönlich kennengelernt, und nur Darius und Kendra hatten ihn wenigstens in dem Holo gesehen, das er Jake geschickt hatte. Doch sie wussten alle, wer ihr geheimnisvoller Gönner »Mr. V« war, und konnten es kaum erwarten, einen Blick auf ihn zu werfen.

Das vorab aufgezeichnete Bild Valerians lächelte. Verdammt, der Junge war aber auch charmant.

»Guten Tag, Professor Ramsey. Ich grüße Sie und Ihr hart arbeitendes Team. Und ein Hallo auch an Sie, R. M.« Das Lächeln wurde breiter und zum Ausdruck echter Freundschaft anstatt bloßer Höflichkeit. R. M. erwiderte es. Nun, dachte Jake, das Verhältnis zwischen R. M. und Valerian ist offenkundig so in der Art.

»Inzwischen hat Professor Ramsey Sie darüber informiert, dass der Tempel dunkel ist. Doch das heißt nicht, dass es in ihm nicht immer noch sehr viel zu entdecken gäbe. Im Gegenteil, Sie werden feststellen, dass ein ganz verblüffendes kleines Rätsel vor Ihnen liegt und seiner Lösung harrt. Ich weiß, Sie gehen wahrscheinlich davon aus, dass Sie die Ersten sind, die an dieser Stätte arbeiten. Ich fürchte, ich habe Sie zu dieser Annahme verleitet, und für diese Irreführung möchte ich mich entschuldigen. Es tut mir leid. Dieser spezielle Tempel wurde bereits von mehreren Teams untersucht. Aber…«

Valerians Holobild sprach weiter, war aber über die verblüfften und wütenden Proteste von Jakes Team nicht mehr zu verstehen.

»Was zum…«, kam es von Darius.

»Was meint er damit, dass bereits mehrere Teams…«, kam es von Teresa.

»Die werden alles, was von Wert war, zerstört haben…«, kam es von Kendra.

Jake bat gestikulierend um Ruhe. Erfolglos.

»Hey!«

Der Schrei war laut, deutlich, weiblich und duldete keinen Widerspruch. Alle verstummten, drehten sich um und starrten R. M. an. Genau wie Jake, der schockiert war, dass ein derart lautes Geräusch aus diesem kleinen Körper kommen konnte.

»Lasst den Professor reden«, sagte R. M. in die plötzliche Stille hinein. »Fahren Sie fort, Professor Ramsey.«

Er blinzelte. »Äh… danke.« Er fuhr sich mit einer Hand durch das sandfarbene Haar. Was hatte er eigentlich sagen wollen? Er war genauso enttäuscht und wütend wie alle anderen. Die Crew der Gray Tiger hatte bereits andere Archäologen transportiert, das hatte er ja gewusst. Nur war er irgendwie nicht darauf gekommen, dass diese vorherigen Teams zum selben Tempel geschickt worden waren. Valerian hatte sie absichtlich glauben gemacht, dies sei eine unerforschte Stätte. Wer weiß, wie viele sorglose Füße schon durch den Tempel getrampelt waren?

»Leute – ich bin genauso verärgert wie ihr. Vielleicht sogar noch mehr. Aber lasst uns diese Nachricht zu Ende hören. Valerian ist offenbar noch nicht fertig.«

Er nickte Teresa zu, die das Vid angehalten hatte, und sie ließ es weiterlaufen.

»… spezielle Tempel wurde bereits von mehreren Teams untersucht«, sagte Valerian. »Aber das heißt nicht, dass alle Geheimnisse gelüftet sind. Bei weitem nicht. Tief im Tempel gibt es einen hohlen Bereich. Aber wir kommen nicht hinein. Es gibt noch ein anderes Vid mit Kommentaren der früheren Teamführer. Ich schlage vor, Sie sehen sich das an, bevor Sie sich dem Tempel widmen. Ihre Vorgänger haben ein paar interessante Theorien entwickelt, über die Sie sich informieren sollten, Jake… Die Teams, die vor Ihnen hier waren, haben so ziemlich alles versucht, um in diesen Bereich zu gelangen – bedauerlicherweise sogar, sich den Weg freizusprengen.«

Darius sagte etwas, das nicht geeignet war für… nun, für zivilisierte Gesellschaft, drehte sich um und schloss die Augen. Er wirkte krank. Jake wusste, wie er sich fühlte.

»Sie werden vielleicht sagen, dass ich die Archäologie nur wieder romantisiere, aber diesem Ort haftet etwas sehr, sehr Seltsames an. Ich bin überzeugt, dass die Geheimnisse, die im Herzen des Tempels verschlossen liegen, grundlegende sind. Auf jeden Fall sind sie uralt. Sie, Professor Ramsey, stehen im Ruf, in anderen Bahnen zu denken als die meisten. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, da sich dies als vorteilhaft erweisen könnte. Finden Sie einen Weg ins Herz des Tempels, und Sie finden Ihren Weg in die Geschichte, mein Freund. Es gibt noch weitere Chips mit Aufzeichnungen über vorausgegangene Ausgrabungen, die Sie sich so bald wie möglich ansehen sollten. Ich zweifle nicht daran, dass Sie, Jake, und Ihr Team unser Wissen noch mehren werden, wenn Sie sich daran machen, das Rätsel zu lösen. Ich wünsche Ihnen viel Glück und ich freue mich darauf, von Ihnen zu hören, wenn Sie erst Gelegenheit hatten, all das zu verdauen. Bis dahin, leben Sie wohl.«

Das Bild erlosch.

»Nun denn«, sagte Jake mit erzwungener Munterkeit, ehe noch mehr wütende Beschwerden laut werden konnten. »Klingt ja so, als gäbe es noch eine Menge zu tun für uns. Machen wir uns auf den Weg und sehen uns selbst an, was los ist.«

Niemand, nicht einmal die für gewöhnlich stillen und recht bedrohlich wirkenden Männer und die eine Frau, die das Team von R. M. bildeten, wollten zurückbleiben. Sie drängten sich in die Steinraupen und fuhren los. Jake bemerkte, dass R. M. und der Rest ihres Teams Gewehre dabei hatten. Doch er war zu niedergeschlagen infolge dessen, was er gerade von Valerian erfahren hatte, um zu protestieren.

Sie kamen näher. Jake konnte jetzt sehen, dass die vorherigen Teams in der Tat viel Arbeit übrig gelassen hatten. Rötlich braunes Gestein und Erde bedeckten noch die Hälfte des Tempels, und Jake verspürte einen plötzlichen, durch nichts zu begründenden Widerwillen gegen diesen Anblick.

Wie konnte so etwas Niederes wie Erdreich es wagen, die Herrlichkeit des Tempels zu verhüllen? Na ja, sie würden sich ja bald darum kümmern. Die zweiundvierzig Leute quollen aus den Steinraupen, verhielten und ließen Jake vorangehen.

Er blieb einen Moment lang stehen und ließ seinen geübten Blick über die Umgebung schweifen. Ja, da waren Stiefelabdrücke im Boden zu sehen. Ein paar Dinge waren ausgegraben und fortgeschafft worden. Sein Blick wanderte in die Höhe… und immer höher.

Verdammt, das Ding war groß. Es war von einem stumpfen, kränklichen Grün; er seufzte innerlich. Er hoffte, dass es noch etwas anderes als diese geheimnisvolle innere Kammer gab, das sein Team untersuchen konnte.

Er winkte, und sie setzten sich in Bewegung. Sie gingen um die Kristalle herum, wobei Jake angewidert feststellte, dass jemand, der weniger achtsam gewesen war, auf viele davon getreten war und sie zerstört hatte. Er fragte sich, warum sie so zerbrechlich waren. Vielleicht waren sie ohne das Energiewesen brüchiger geworden? Sie würden es herausfinden.

Er machte den nächstgelegenen dunklen Eingang aus. Er lag nur ein paar Meter über ihnen und ein Stück zur Linken. Aber die gewellte Oberfläche des Artefakts würde ihnen genug Halt für Hände und Füße bieten.

Jake streckte einen Arm aus und berührte es. Er erwartete… irgendetwas, er wusste nicht, was. Doch es passierte nichts. Das Ding war tot. Er holte seine Taschenlampe hervor und trat hinein. »Darius, Kendra, Teresa und Leslie – ihr kommt mit.«

Sie waren diejenigen, mit denen er schon am längsten zusammenarbeitete und denen er am meisten vertraute. Außerdem fand er, dass sie es verdienten, die Ersten zu sein, die einen Blick auf das werfen durften, was dort drinnen war. »Wenn ich der Meinung bin, dass es sicher ist, werden wir in Fünfergruppen reingehen.«

»Ich komme mit«, sagte R. M. und trat mit ihrem Gewehr vor.

Jakes Miene verfinsterte sich ein wenig. Obgleich das Verhältnis zwischen ihm und R. M. nicht mehr so angespannt war wie zu Beginn, wollte er diesen Moment doch nicht mit ihr teilen müssen.

»Der Tempel ist leer. Es befindet sich nichts Gefährliches darin. Und vergessen Sie nicht, wir sind nicht die Ersten, die da hineingehen.«

R. M. erwiderte nichts, und sie rührte sich nicht. Sie sah ihn nur aus ihren kühlen blauen Augen an, und er seufzte: »Na gut, dann kommen Sie eben mit.«

Sie trat vor und drängte sich zwischen den anderen hindurch, sodass sie direkt neben ihm stand. Er musste wohl dankbar sein, dass sie nicht darauf bestand, vorauszugehen. Er konzentrierte sich auf den einfachen Aufstieg und hatte den Eingang rasch erreicht. Er zog sich hinauf, stand auf und spähte hinein.

Sie bewegten sich langsam vorwärts. Jake blieb stehen, richtete den Lichtkegel auf die geschwungenen Wände und streckte die bloße Hand danach aus. Farbschlieren, heutzutage nicht mehr so leuchtend, wie es einmal der Fall gewesen sein mussten, liefen durch die Wände und traten mal stärker, mal schwächer hervor.

Worum handelte es sich dabei? Was bedeuteten sie? Er entsann sich, dass Valerian etwas von einem zu lösenden Rätsel gesagt hatte. Dass es ein solches gab, lag bereits auf der Hand. Er war Forscher, und bei Gott, dies war vermutlich die größte Chance, etwas zu erforschen, die er je bekommen würde.

Jake bog um eine Ecke, mit der Hand immer noch über die Wand streichend, und stellte fest, dass die Wände peu a peu ihre Glätte verloren. Hier wurden sie an vielen Stellen von jenen Kristallen, die das Artefakt auch draußen umringten, und anderen knotigen Vorsprüngen durchbrochen.

Jake hörte ein dumpfes Geräusch und einen gemurmelten Fluch, dazu ein Keuchen. Das dumpfe Geräusch und der Fluch waren von Darius gekommen, das Keuchen von Leslie. »Pass auf deinen Kopf auf, Darius«, sagte Jake mit Verspätung und musterte Leslie. »Alles in Ordnung, Les?«

Sie nickte, wirkte aber… nervös. Jake war etwas verwirrt. Er kannte Leslie nun schon seit einigen Jahren, und sie hatte nie irgendwelche Anzeichen von Klaustrophobie gezeigt. Andererseits war dieser Ort aber auch merkwürdig, ganz anders als alles, was sie bislang ausgegraben hatten. Zögernd fragte sie: »Spürt noch jemand, dass diese Wand ein bisschen vibriert?«

R. M. verkniff sich ein Lächeln. Kendra runzelte die Stirn. »Du lässt dich ins Bockshorn jagen, Les. Das sieht dir gar nicht ähnlich.«

»Ja, hast wohl Recht. Entschuldigt.« Leslie sah beschämt drein.

»Ist schon gut, Les. Ist ja auch unheimlich hier. Aber ich bin sicher, wir werden uns daran gewöhnen«, meinte Jake beruhigend und schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Leslie erwiderte es, wenn auch nicht ganz überzeugend. Jake ging weiter.

Hier und da drangen seltsame Geräusche durch die Dunkelheit, wahrscheinlich der Wind, der durch die verschiedenen Öffnungen, die der Tempel aufwies, zog. Jake behielt Les im Auge, und es überraschte ihn ein wenig, dass auch Darius anfing, etwas die Nerven zu verlieren. Tatsächlich schienen nur Jake selbst und R. M. völlig unbeirrt von dem merkwürdigen Relikt.

Es war größer und labyrinthartiger, als er es erwartet hatte. Mehrfach holte er ein Stück Kreide hervor, um zu markieren, welche Abbiegung sie genommen hatten. Jetzt wünschte er sich allmählich, er hätte sich die Zeit genommen, sich die Aufzeichnungen anzusehen, die Valerian mitgeschickt hatte. Aber die Nachricht des Thronerben war so niederschmetternd gewesen, dass er sein Team einfach nur zur Ausgrabungsstätte hatte bringen wollen und – Jake furchte die Stirn. Einer ihrer Vorgänger hatte vor ihnen ein Seil quer durch den Gang gespannt, aber es hatte sich gelöst und lag nun vor ihm am Boden. Er griff danach und trat dabei nach vorne, ohne sich dessen bewusst zu sein.

»Jake, nicht – « Die Warnung von R. M. kam einen Herzschlag zu spät.

Der Boden unter Jake gab nach. Bevor er auch nur Gelegenheit hatte, einen Laut auszustoßen, war er vor den Augen der anderen verschwunden.

KAPITEL 5

Jake schlug hart auf. Die Luft wurde ihm mit einem gewaltigen Wuusch aus den Lungen getrieben, und ein paar Sekunden lang glaubte er, bewusstlos zu werden.

»Was zum…«, murmelte er, nachdem er wieder Atem geschöpft hatte. Er hörte ein ächzendes Geräusch unter sich und hatte kaum Zeit genug für einen halblauten Fluch, ehe der Boden unter seinem Gewicht ein zweites Mal einbrach. Er stürzte noch tiefer in den Tempel und landete abermals hart.

Diesmal war er ziemlich sicher, sich den Knöchel verstaucht zu haben. Er blieb einen Moment lang liegen, argwöhnte, der Boden könnte sich ein drittes Mal auftun, aber er schien zu tragen.

Jake setzte sich vorsichtig auf. Offenbar hatte er sich nichts gebrochen, aber neben dem verstauchten Knöchel würde er, dessen war er sich gewiss, auch ein paar blaue Flecken zurückbehalten. Er verlagerte sein Gewicht, um die Oberfläche, auf der er lag, zu testen, und sie schien fest zu sein. Jake setzte sich auf – und jemand landete auf ihm. Er schrie auf.

»Ich bin’s nur«, erklang die kühle Stimme von R. M. »Tut mir leid, dass ich auf Sie getreten bin.« Ein Licht ging an und R. M. richtete es zur Decke. »Sieht aus, als wäre ich gerade rechtzeitig gekommen.«

Jake folgte ihrem Blick. Es gab kein Anzeichen, dass es über ihm je etwas anderes gegeben hatte als die geschwungene Decke dieses speziellen… Tunnels? Korridors? Wo zum Teufel waren sie? »Was ist passiert?«

»Der Boden öffnete sich unter Ihnen, und Sie stürzten durch einen zweiten Gang«, sagte R. M. während sie ein langes Seil aufrollte und mit fast chirurgischem Blick das abgeschnittene Ende betrachtete. »Ich habe immer ein Seil und andere Werkzeuge dabei. Ich sah, wie Sie abstürzten, warf Aidan ein Ende zu und folgte Ihnen. Dann schloss sich die Öffnung, und hier sind wir nun.«

Er schaute nach oben und tatsächlich war dort kein Loch zu sehen. »Hat sich geschlossen, hm?«

Wie bitte? Was war dies für ein Ort?

Er wurde etwas wacklig in den Knien, weil sein Gewicht auf seinem linken Bein ruhte. Halt suchend lehnte er sich gegen die Wand und schaltete seine Taschenlampe ein. Ein paar Meter weiter verbreiterte und gabelte sich der Gang. Hinter ihm lief er ein kurzes Stück weiter, bevor er so eng wurde, dass es kein Durchkommen mehr gab.

Jake richtete sein Augenmerk auf den Boden und überlegte, ob dieser wohl auch plötzlich nachgeben würde. »Hm. Sieht… anders aus hier. Grüner.«

Er musterte den Boden und die Wände, während R. M. ihre Position an ihr Team meldete. »Ja… durch zwei Lagen hindurchgestürzt. Seht ihr mich auf eurem Monitor? Gut.« Sie lauschte, dann sagte sie: »Okay, dort treffen wir uns.« Sie wandte sich an Jake. Ihr Blick fiel auf seinen Knöchel und sie verzog das Gesicht. »Gebrochen?«

»Zumindest verstaucht.«

»Tom wird mich leiten. Sie haben eine Reihe von Gängen gefunden, und ein paar Ecken weiter gibt es einen Ausgang. Dort werden wir uns treffen. Können Sie laufen?«

»Ich kann hüpfen.«

Sie seufzte. »Dann warten Sie hier. Wir kommen mit einer Trage zurück und holen Sie ab. Sollte nicht lange dauern.« Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und tauchte in den linken Korridor. Er sah mit finsterem Blick, wie ihr Licht verschwand, dann blickte er stirnrunzelnd auf seinen Knöchel und leuchtete mit der Lampe umher.

Die Minuten vergingen. Jake schaute immer wieder in den rechts von ihm liegenden Tunnel. Er erhob sich und belastete probehalber seinen Fuß. Es tat weh, aber wenn er aufpasste, mochte er es in den rechten Gang schaffen. Er stützte sich an der Wand ab und humpelte los.

Aufgesetzte Tapferkeit bei einer Verletzung war für gewöhnlich dumm, aber er war neugierig. Wahrscheinlich würde auch dieser Gang wie der Korridor hinter ihm nirgendwohin führen – aber dann wusste er es wenigstens. Außerdem hasste er den Gedanken, nur herumzusitzen und auf R. M. und ihr Team zu warten, damit sie ihn hinaustrugen.

Er führte nicht nirgendwohin. Der Gang ging weiter. Und… er wurde immer grüner. Und die Oberfläche unter seinen Füßen fühlte sich anders an – irgendwie fester und zugleich nachgiebiger.

Jake bog um eine Ecke und blieb unvermittelt stehen. Einen Meter weiter endete der Gang in einer Sackgasse. Aber das war es nicht, was ihn so abrupt hatte innehalten lassen, mit vor Aufregung rasendem Herzen.

Die Wand zu seiner Linken war mit großen Symbolen verziert, die mit einer Art dunkler Farbe darauf gekritzelt worden waren.

Für einen langen Augenblick starrte er auf die Schrift und atmete kaum. Er erkannte die Sprache nicht, aber es handelte sich unübersehbar um eine solche und nicht um zufällige Muster in der Wand.

Er beugte sich so nahe hin, wie er sich traute, darauf bedacht, nichts zu verwischen. So viele Fragen schwirrten ihm durch den Kopf: Wer hatte das geschrieben? Was hieß es? Woraus bestand die Tinte?

Damit würde er anfangen. Im Laufe der Zeit war etwas von der Tinte abgeblättert und ein paar Stückchen punkteten den seltsam grünen Boden. Den Atem anhaltend, damit kein unbedachter Hauch die kostbaren Proben wegwehen konnte, zog er seine Handschuhe an, holte einen sterilen Behälter aus einer der unzähligen Taschen seiner Jacke und nahm vorsichtig eine Probe.

Es überraschte ihn, dass seine Hände nicht zitterten. Wahrscheinlich, so nahm er an, machte sich jetzt die jahrelange Erfahrung bemerkbar und half ihm gnädigerweise durch diesen dramatischen Moment.

Wie alt war die Schrift? Woraus war sie gemacht? Was bedeutete sie?

»Jake, verdammt, wo sind Sie?« R. M. klang höchst verärgert.

»In diesem Gang«, rief Jake. Er rappelte sich hoch. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden…«

Sein Knöchel knickte unter ihm weg. Er streckte die Hand aus, um den Sturz abzufangen und berührte die Wand gegenüber der Schrift mit seiner bloßen Hand.

Licht flammte auf und blendete ihn beinahe. Er zog die Hand zurück und sah ihren Abdruck schwach nachglühen. Licht schlängelte sich aus seinen Fingern und bildete ein Rechteck, das sekundenlang hell leuchtete und dann verblasste.

Jake starrte darauf. Er hatte nie viel übrig gehabt für Gedankenleserei oder die sogenannte Romantik dessen, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Er vertraute lieber auf das, was er sehen, untersuchen und berühren konnte, nicht auf das, was seine Gefühle oder Vorstellungskraft ihm suggerierten.

Aber in diesem Moment fühlte er ein Schaudern. Auf was zum Teufel waren sie hier gestoßen?

R. M. kam den Gang herunter und sah gerade noch, wie das Licht anfing zu schwinden. »Hm«, machte sie. »Sieht aus, als hätten Sie eine Tür gefunden.«

*

Eine Stunde später saß Jake, nachdem man sich um seinen Fuß gekümmert hatte, eingewickelt wie eine Mumie und ein Kissen im Rücken, mit den anderen einundvierzig Mitgliedern seines Teams zusammen, während Teresa versuchte, Kontakt zu Valerian aufzunehmen.

Jake hatte sie informiert, und nun trugen sie alle ein breites Grinsen zur Schau. Er freute sich, fast mehr für sie als für sich selbst. Teresa sprach erst mit dem Assistenten des Thronerben, und ein paar Augenblicke darauf erschien Valerian Mengsks gut aussehendes Gesicht. Er lächelte, wenn auch leicht verwirrt.

»Ich wusste nicht recht, was ich denken sollte, als Whittier mir sagte, dass Sie es seien, Jake. Ich hoffe, es gibt keine Probleme?« Valerian warf einen kurzen Blick auf Jakes bandagierten Knöchel.

»Nur die Folge eines Sturzes, weiter nichts. Aber ich darf Ihnen mit Freude melden, dass wir bereits etwas entdeckt haben. Wir haben einen weiteren Zugang zur Mittelkammer gefunden. Einen vollkommen verschütteten Tunnel. Teresa schickt Ihnen jetzt ein paar Bilder.«

Valerian blickte auf einen anderen Bildschirm, den Jake nicht sehen konnte, und seine Augen wurden groß.

»Wir sind nicht sicher, was die Schrift bedeutet«, sagte Jake, »oder womit sie hingemalt wurde. Im Labor wird gerade eine Analyse vorgenommen. Aber das Erstaunlichste passierte, als ich die Wand berührte.«

Er wartete, bis Valerian sich auch das angesehen hatte. Dann grinsten sowohl er als auch der Erbe des Dominion wie kleine Jungs.

»Sie hatten Recht, Sir. Es ist eine Tür. Und ich wette, diese Schriftzeichen werden uns verraten, wie wir hineinkommen.«

Valerian seufzte. »Jake… in diesem Augenblick würde ich mein Lebenslos gerne mit Ihnen tauschen.« Jake glaubte ihm. »Melden Sie sich, sobald Sie mehr wissen, ganz gleich, was es ist. Und zu jeder Zeit.« Seine Augen strahlten vor Begeisterung. »Erzählen Sie es mir. Erzählen Sie mir alles.«

»Natürlich. Ich verspreche Ihnen, wir werden jeden einzelnen Moment der Ausgrabung dokumentieren.«

»Ausgezeichnet. Das ist sehr, sehr aufregend. Was halten Sie von Professor Carlisles Theorie?«

Jake hatte sich die Vids noch nicht angeschaut, und daher kannte er Professor Carlisles Theorie nicht. »Äh… ich muss noch etwas mehr davon sehen, bevor ich dazu Stellung nehmen kann.«

»Natürlich, natürlich. Jake, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich hatte natürlich große Hoffnungen in Sie gesetzt, aber Sie haben sie bereits übertroffen. Ich bin absolut sicher, dass Sie einen Weg in diesen Raum finden werden.«

»Ich werde mein Bestes tun, Sir.« Valerian nickte und zwinkerte ihm zu, dann verschwand sein Bild. Jake lehnte sich in seinem Sessel zurück und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

R. M. sah ihn bewundernd an. »Ich glaube, ich bin ganz froh, dass Sie nicht Poker spielen, Prof«, sagte sie. »Sie sind ein verdammt guter Bluffer.«

Take lächelte schwach.

Nach dem Abendessen setzten sie sich zusammen und schauten sich das andere Vid an. Es handelte sich um eine Zusammenstellung von Kommentaren der Leiter jener Teams, die vor ihnen hier gewesen waren. Das erste war ein einfaches Archäologenteam gewesen. Die letzten beiden hatten Marines dabei gehabt. Jake und die anderen lauschten den Beschreibungen der verschiedenen Vorgehensweisen, welche die drei anderen Gruppen probiert hatten, um die Tür ins Herz des Tempels zu öffnen.

Vieles, was er erfuhr, stieß ihn ab. Einiges erregte seine Neugier, darunter auch Professor Carlisle und seine Theorie darüber, was sich im Innersten des Tempels befinden mochte. Carlisle war ein paar Jahre älter als Jake und machte einen sehr erhabenen Eindruck. Seine Haut hatte die Farbe dunkler Schokolade, seine Augen blickten durchdringend und sein Haar war schlohweiß. Seiner Theorie zufolge war der Tempel ein interstellares Fahrzeug; die Energiewesen, die sich auf Bhekar Ro und hier auf Nemaka gezeigt hatten, waren die Piloten; und demnach waren diese Wesen selbst Angehörige jener unbekannten Rasse, die den Tempel entworfen und gebaut hatte.

Das klang ziemlich gut. Jake dachte an den Boden, der unter ihm nachgegeben und sich dann selbst repariert hatte. Es war vorstellbar, dass ein hochmodernes Fahrzeug mit einer solchen Auto-Funktion programmiert werden konnte. Allerdings, überlegte Jake… warum hätte der Pilot dann aus seinem eigenen Schiff »ausbrechen« müssen? Und warum sollte er jahrhundertelang darin sitzen bleiben, bevor er dies tat?

Eines kam ihm sehr merkwürdig vor. Nichts von dem, was gesagt oder gezeigt worden war, sondern etwas, das ungesagt geblieben war. Jeder dieser Menschen schien »Bammel« – ein besseres Wort dafür fiel ihm nicht ein – zu haben, als sie Nemaka verließen. Einige mehr, andere weniger. Der elegante Carlisle schien davon weitgehend unberührt geblieben zu sein. Aber am Ende ihrer Zeit hier hatten sie alle einen bedrängten, gequälten Eindruck gemacht. Die Fältchen um ihre Augen herum hatten zugenommen, und in ihrer Stimme war Anstrengung zu hören gewesen. Die Fakten, über die sie gesprochen hatten, legte Jake in Gedanken zu den Akten. Aber dieser Eindruck… darauf würde er achten müssen.

Der Tag war lang gewesen, und die Nacht hatte sich herabgesenkt, als sie fertig waren. »Legt euch schlafen«, sagte Jake. »Morgen geht’s früh raus.«

Morgen. Der erste volle Tag auf dem Planeten. Er konnte es kaum erwarten.

*

Nein! Es darf nicht verloren sein!

Schmerz… Blut, dunkel, dick und heiß, strömte aus Wunden, die sich nicht schließen würden. Sie starb. Sie starb, und bald würde es verloren sein, alles würde verloren sein…

Leslie richtete sich ruckartig auf, zitterte heftig. Ihr Herz raste. Hatte sie geschrien? Die anderen Frauen schliefen noch. Offenbar hatte sie nicht einmal Kendra gestört, die im Bett unter ihr tief und gleichmäßig atmete.

Sie fuhr sich mit einer Hand durch das vom Schweiß verklebte Haar. Nein, nicht Schweiß… Blut, es war Blut. Ihre Hand tropfte. Es glänzte schwarz im Licht, das ganze Bett war damit verschmiert…

Leslie wachte auf, diesmal wirklich. Und diesmal hatte sie geschrien.

*

Am nächsten Morgen begrüßte R. M. Jake, als er zum Frühstück erschien, höflich im Speiseraum. Sie und ihr Team trugen ihre Waffen bereits bei sich, noch bevor sie sich auf den Weg zum Tempel machten.

Jake seufzte innerlich. Natürlich waren die Archäologen auf früheren Expeditionen auch nicht unbewaffnet gewesen. Selbst Jake hatte ein- oder zweimal eine Waffe auf ein wütendes fremdes Wesen abgefeuert, das ihn bei einer Ausgrabung überrascht hatte.

Aber das hier war etwas anderes. Obgleich R. M. betont hatte, dass kein Mitglied ihres Teams, und auch sie selbst nicht, offiziell zum Militär gehörte oder »Regierungseigentum« sei, wie sie es scherzhaft ausgedrückt hatte, waren sie doch unleugbar eine Art Krieger, selbst wenn sie auf dem Privatsektor tätige Söldner waren, die »Mr. V« angeheuert hatte.

Jake fand, dass es ein großer Unterschied war, ob man eine Waffe benutzte, um sich oder seinen Besitz zu verteidigen, oder weil es so in der Arbeitsbeschreibung stand. Aber da er in dieser Sache absolut keine Wahl hatte und da R. M. und ihr Team hier waren, um dafür zu sorgen, dass seinem Team nichts zustieß, während sie im Dreck buddelten, sollte er deswegen wohl nicht zu hart mit ihr ins Gericht gehen.

Er entdeckte Rainsinger, der sich gerade eine Tasse Kaffee einschenkte. Der junge Arzt wirkte müde. Er schaute auf, als Jake auf ihn zuhinkte.

»Ich habe gute und schlechte Nachrichten«, sagte Rainsinger. »Ich blieb gestern Nacht lange auf, um die Tests vorzunehmen. Die schlechte Nachricht ist, dass die Schrift an der Wand noch keine zehn Jahre alt ist. Man kann sie also kaum als antik bezeichnen.«

»Und meine Theorie, dass die Schöpfer des Tempels uns eine Nachricht hinterlassen haben, verschwindet durch die Luftschleuse ins Nichts«, seufzte Jake enttäuscht. »Und die gute Nachricht?«

Eddie grinste und nahm einen Schluck von dem bitteren, zähen Getränk, das hier als Kaffee galt. Die Nachricht war mit Blut geschrieben. Kein menschliches allerdings und auch von sonst keinem Lebewesen, das auf Nemaka vorkommt.

Leslie war zu ihnen getreten, einen dampfenden Becher in der Hand. »Zerg?«

»Nein. Und glaubt mir, wir haben jede Menge Zerg-DNS in den Datenbanken, mit denen ich unsere Probe vergleichen konnte.«

»Dann vielleicht Protoss«, überlegte Darius. »Die einzige andere intelligente Rasse – die wir kennen. Wer immer das geschrieben hat, er könnte sein eigenes Blut benutzt haben. Und diese Nachricht ist in keiner der terranischen Sprachen verfasst, die ich studiert habe.«

»Eine Nachricht, die jemand mit seinem eigenen Blut geschrieben hat«, murmelte Leslie, den Blick ziellos in die Ferne gerichtet. »Die Vorstellung allein ist schon ziemlich unheimlich.«

»Und sie entbehrt jeder Grundlage«, sagte Jake, wobei er Leslie ansah. Er erinnerte sich, dass sie nervös gewirkt hatte, als sie im Tempel gewesen waren. »Les, alles in Ordnung mit dir?« Er warf Dr. Patel einen Blick zu, die ein Stück entfernt stand, und sie nickte leicht zum Zeichen, dass sie seine Bitte verstanden hatte.

»Ja. Ich glaube schon…« Leslie lachte. »Ich bin schreckhaft wie ein kleines Kind.«

»Nein, das bist du nicht«, sagte Darius. »Dieser Ort jagt mir auch eine Gänsehaut über den Rücken. Und eine Nachricht zu finden, die mit Blut geschrieben wurde, macht’s auch nicht gerade besser.«

Jakes Mut sank. Darius auch? Es kam schon mal vor, dass Mitglieder archäologischer Teams ein bisschen verrückt spielten. Manchen machte die Isolation zu schaffen, und dann legte die Fantasie Überstunden ein. Aber er arbeitete mit den meisten dieser Leute seit Jahren zusammen, und er hatte sie stets im Team behalten, eben weil sie vernünftige, geistig stabile Menschen waren.

Und dies wäre der denkbar schlechteste Moment, um ihm zu beweisen, dass er sich in seinem Urteil geirrt hatte…

R. M. war unterdessen zu ihm getreten. Er deutete auf das Gewehr. »Ist das wirklich nötig?«

Sie warf ihm einen Blick zu. »Gestern haben Sie sich aber nicht über meine Dienste beklagt.« Sie füllte ihre Tasse noch einmal und drehte sich um.

Er ging ein Stück mit ihr, immer noch humpelnd. »Ihre Dienste waren mir höchst willkommen, das können Sie mir glauben. Aber die hatten ja auch nichts mit einer Schusswaffe zu tun.«

»Man hat Ihnen eine Aufgabe gestellt, Professor: in diesen Raum vorzudringen. Der Rest Ihres Teams ist nur Staffage, und trotz Ihres blendenden Anfangserfolgs wissen Sie und wissen die das. Niemand ahnt, was sich in dieser Kammer befindet. Es könnte tatsächlich etwas sehr Unangenehmes sein. Sie machen Ihren Job, und ich mache meinen. Wir müssen uns darüber nicht streiten.«

Sie lächelte zuckersüß. Er ließ sie das Gewehr mitnehmen.

Die Konfrontation, von der er wusste, dass sie kommen würde, erfolgte am dritten Abend.

Jake bereitete sich im Speiseraum eine Kleinigkeit zu essen, als R. M. ihm exakt schilderte, wer von ihrem Team wofür zuständig war. Dagegen hatte Jake nichts. Die Verteidigung war die Angelegenheit von R. M. und es stand ihr zu, sie zu handhaben, wie sie es für richtig hielt. Allerdings ärgerte es ihn, dass sie ihm unmittelbar danach haarklein erklärte, wie sich alle anderen im Camp zu verhalten hatten und wer wann wo sein musste.

Jake hatte auf die Liste gestarrt. Kleine, harte, runde Dinger, die Kekse sein sollten, lagen unberührt auf seinem Teller, und dann fing er, offenkundig sehr zur Verärgerung von R. M. an zu lachen.

»Hören Sie, R. M. falls es eine wie auch immer geartete Sicherheitskrise geben sollte, wird Ihnen jeder auf diesem Planeten so aufmerksam lauschen, dass Sie Ihre Anweisungen flüstern könnten. Aber bis dahin ist das hier keine Diktatur. Es gibt keinen Zapfenstreich und keine Einschränkungen dessen, was die Leute in ihrer Freizeit tun. Lieber Gott, was glauben Sie denn, wo die Leute hingehen könnten? So groß ist das Lager nun auch nicht!«

»Genau das ist ja der Punkt«, sagte R. M. die Hände in die Hüften gestemmt und mit einem dünnen Lächeln. »Es ist gut, dass Ihre Arbeit körperlich so müde macht. Die Leute sind erschöpft, wenn sie sich aufs Ohr hauen. Gott weiß, was passieren könnte, wenn sie sich langweilen würden und darauf aus wären, etwas zu anzustellen.«

»Wir reden hier nicht von Kindern«, hatte Jake übertrieben geduldig erwidert, »sondern von intelligenten, erfahrenen, professionellen Erwachsenen. Die Leute sind – «

»Gottverdammich noch mal!« Darius’ dröhnende Stimme unterbrach ihn genau in diesem Moment vom anderen Gebäude her. »Wo hast du dieses Ass her, Rainsinger? Das musst du dir aus dem – «

Zum Glück wurde der Rest der Bemerkung von jemandes – wahrscheinlich Eddies – wütender Entgegnung verschluckt. R. M. hob eine Rabenbraue, und Jake spürte, wie sein Gesicht heiß wurde.

R. M. stand auf. »Ich hebe diese Runde besser auf. Bin gleich wieder da. Schauen Sie sich den Plan an und sagen Sie mir, was Sie davon halten.«

Jake hatte ihn sich angeschaut, und trotz Darius’ schlecht getimtem Ausbruch beschloss er, nicht nachzugeben. Als R. M. fünfzehn Minuten später zurückkam, ohne dass auch nur ein Haar auf ihrem Kopf anders gelegen hätte, blickte er sie ruhig an.

»Darius neigt zu solchen Anfällen«, empfing er sie, ehe sie auch nur ein Wort sagen konnte. »Er ist außerdem – «

»Ein intelligenter Mensch und ein gewissenhafter Archäologe, der sich seine Wutanfälle für seine Freizeit aufspart. Ich weiß«, unterbrach R. M. ihn. Sie glitt katzenhaft auf ihren Stuhl. »Ich habe alles, was ich bekommen konnte, über Sie und Ihre Leute gelesen. Und ich habe Sie alle beobachtet, seit wir uns kennenlernten. Ich glaube immer noch, dass es gut für alle wäre, wenn wir ein paar Grenzen zögen. Sollte jemandem langweilig werden, weil er nichts zu tun hat, und plötzlichen Tatendrang entwickeln, dann lassen Sie es jemanden aus meinem Team sein.«

Jake schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie Sie es gewohnt sind, die Dinge zu handhaben, aber hier kommt jeder Befehl von mir. Und ich nehme keinen Einfluss darauf, was meine Leute in Ihrer freien Zeit tun. Das sind erwachsene Menschen. Ein paar von ihnen benehmen sich nicht immer so, aber sie sind erwachsen. Mit den meisten von ihnen bin ich seit Jahren zusammen, und es gab noch nicht einmal eine Schlägerei. Es wird schon mal hitzig, aber es kam noch nie zu einem Zwischenfall. Und das sollten Sie wissen, wenn Sie wirklich alles gelesen haben, was Sie bekommen konnten.«

Sie sah ihn noch einen Moment lang an, ihre blauen Augen suchten die seinen, dann nickte sie. »Ich verstehe, Jake. Aber was wird passieren, wenn es wirklich Ärger gibt?«

»Ich werde allen sagen, dass sie auf Sie hören und tun sollen, was Sie anordnen. Und ich werde der Erste sein, der seinem eigenen Rat folgt.«

»Was ist, wenn dazu keine Zeit bleibt? Was ist, wenn Sie tot sind, weil Sie in dieser Kammer irgendeine uralte Falle ausgelöst haben oder ein Zerg Sie angegriffen hat, weil er dieses Ding für den Hive haben will?«

Darauf hätte er wohl gefasst sein müssen, aber er war es nicht. Jake blinzelte und zögerte. »Ich nehme an, das Team würde sich in einem solchen Fall automatisch an Sie wenden.«

»Nicht wenn sie es nicht gewöhnt sind.«

Die Lösung wehte Jake entgegen wie der Duft von Wiesenblumen in einer Sommerbrise. Süß und vollkommen.

»Sie haben Recht«, sagte er unvermittelt. »Gewöhnen wir sie daran. Ich erwarte Sie morgen früh bei der Ausgrabungsstätte.«

Er brachte es fertig, nicht laut über den Ausdruck auf ihrem Gesicht zu lachen. Sie stieß ein altes angelsächsisches Wort aus, das Darms gefallen hätte.

»Ich bin eine ausgebildete Spezialistin. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen!«

»Sie haben doch selbst gesagt, dass es da eigentlich nicht viel zu tun gibt«, konterte Jake. Oh, wie er grinsen wollte. »Und Sie haben Ihrer Besorgnis darüber Ausdruck verliehen, dass meine Leute sich vielleicht nicht automatisch an Sie wenden könnten, wenn mir, was der Himmel verhüten möge, etwas zustoßen sollte. Meiner Meinung nach wären beide Probleme gelöst, wenn Sie sich morgen zusammen mit dem Rest von uns die Hände dreckig machen würden.«

Einen Moment lang fragte er sich, wie derart kühle blaue Augen so einen hitzigen BBlck hervorbringen konnten. Dann sah er, wie die Andeutung eines Lächelns ihre Lippen bewegte. »Touche«, sagte sie. »Touche.«

An ihrem ersten Tag war sie im Grunde genommen schikaniert worden. Jakes gesamtes Team schien voller Schadenfreude darauf aus zu sein, R. M. die nicht nur Jake ein wenig elitär vorgekommen war, die niedrigsten Arbeiten aufzubürden.

Zu Jakes Überraschung hatte R. M. sich ohne zu klagen ans Werk gemacht, und zum Ende des dritten Tages wurde die zierliche Frau, die Jake vermutlich mit ihrem bloßen Daumen hätte töten können, so behandelt, als habe sie schon immer zum Team gehört.

An diesem Punkt der Ausgrabung waren die meisten Arbeiten tatsächlich sehr niedriger Art. Das Erdreich und die Kristalle ein Stück von dem eigentlichen Artefakt entfernt konnten leicht mittels Maschinen entfernt werden. Aber als sie bis auf einen Meter an den Tempel heran waren, bestand Jake darauf, dass mit Handwerkzeugen gearbeitet wurde. Und als sie diese Lage Erdreich entfernt hatten, machten sie mit Bürsten, kleinen Hämmern und Meißeln weiter und tragen dabei Handschuhe.

Nach dem ersten Erfolg schien das Team nun in einen chronischen Zustand der Unzufriedenheit zu verfallen. Jake hatte etwas Großes entdeckt, aber es hatte nichts mit der Ausgrabung des Tempels selbst zu tun, und der Umstand, dass sie zu spät zu jenem Erlebnis dazugekommen waren, deprimierte sie.

Obwohl Jake Erfahrung darin hatte, schwindender Moral wieder Auftrieb zu geben, setzte ein solcher Mangel an Begeisterung für gewöhnlich erst ein, wenn die Ausgrabung schon ein paar Monate angedauert hatte. Bereits in der ersten Woche dagegen angehen zu müssen, war mühselig – aber er hatte einen Plan. Jeden Tag nahm er drei oder vier Angehörige seines Teams mit hinein, um verschiedene Höhlen zu erkunden. Sie zeichneten alles auf, und Jake sprach die Kommentare über seltsam facettierte Zeichnungen des lebenden Artefakts, kaum merkliche Abstufungen des Bodens oder neue Tönungen der vielfarbigen Streifen, die sich wie Blutgefäße durch Wände und Böden zogen.

Eine andere Richtung, in die er ihre Energien oft leitete, war der Erdboden, der den Bereich umgab und der reich an Fossilien war. Etliche Mitglieder seines Teams, darunter auch Leslie, hatten nicht nur Abschlüsse in Archäologie, sondern auch in Paläontologie und Paläobotanik, und er war dankbar für diese nützliche Ablenkungsmöglichkeit.

Nachdem er sich darum gekümmert hatte, ließ Jake sie ihre Arbeit tun und stieg in die Tiefe zum Durchgang hinab, nun allerdings auf herkömmlichere Weise als beim ersten Mal, indem er einfach dem Gang folgte, den R. M. genommen hatte. Dort setzte er sich hin, ganz allein, und starrte auf die Wand und das mutmaßliche Tor, und seine Gedanken überschlugen sich.

Es war ihm etwas aufgefallen, als er den Tempel das erste Mal betreten hatte und nicht eine, sondern zwei Ebenen weit nach unten gestürzt war. Von außen war der Tempel hundertprozentig dunkel. Es war ein dunkles Grünbraun und Schwarz, und die Kristalle, die ihn umgaben, waren brüchig. Er hatte gelernt, die Stellen zu erkennen, wo man einbrechen könnte, wie es ihm passiert war – sie waren von einem verräterischen dunklen Jadegrün.

Auf eine flüchtige Untersuchung hin war der Tempel also dunkel, ja. Tot.

Aber: Als er sich dem inneren, hohlen Bereich genähert hatte, dem sogenannten Herzen des Tempels, hatte er bemerkt, dass die weiter zum Zentrum hin gelegenen Bereiche viel grüner waren. Sie wiesen einen fast smaragdgrünen Ton auf und entsprachen viel mehr den Beschreibungen des Tempels auf Bhekar Ro.

Der Tempel dort hatte noch ein Energiewesen beherbergt.

Manchmal bestand das Grün nur aus ein paar Punkten hier und da. Manchmal nahm es größere Flächen ein. Das »Tor«, wenn man es so nennen konnte, das kurz aufgeflackert hatte, als er seine Hand darauf legte, war eine solche Fläche.

Je näher man dem Herzen des Tempels kam, dieser inneren Kammer, desto kräftiger schienen die Farbtöne zu werden.

Mehr als nur einmal zog Jake seine Handschuhe aus und berührte die Wände beinahe zärtlich. Obgleich die Geste nicht der praktischen Herangehensweise an die Archäologie zu entsprechen schien, wusste er doch, dass dem so war. Um etwas kennenzulernen, musste man es berühren. Man musste all seine Sinne einbringen in das, was man tat, weil die Geheimnisse sich versteckten. Wenn jedermann alles auf einen Blick hin gewusst hätte, gäbe es keine Herausforderungen.

Er wollte, dass das Artefakt mit ihm sprach, wollte, dass es ihm die Geheimnisse derer offenbarte, die es erschaffen hatten. Es sollte ihm verraten, wie dieses Tor zu öffnen war, das zwischen Jake Ramsey und dem Herzen eines Alien-Tempels stand. Es war dasselbe, was er immer wollte, wenn er eine Ausgrabung unternahm. Er wollte, dass die Relikte der Vergangenheit, die Stücke von Töpferwaren, Bauten oder Werkzeugen ihm von den Wesen erzählten, die sie hergestellt hatten.

Und am Ende taten sie das auch immer. Und in diesem Fall würde es genauso sein.

Er musste nur herausfinden, wie er es dazu bringen konnte, mit ihm zu sprechen.

*

Darius würde nicht mit einem Seelenklempner reden, wie Leslie es tat. Auf gar keinen Fall. Schon deshalb nicht, weil es Leslie nicht sonderlich zu helfen schien, mit dem Seelenklempner zu quasseln. Er würde alleine fertig werden mit den Stimmen, die in seinem Kopf flüsterten, gar keine Frage.

Und wenn es etwas flüssigen Mutes bedurfte, um sich in die rechte Stimmung zu bringen, diesem dunklen, brütenden »Tempel« gegenüberzutreten, der ihn jedes Mal anzuglotzen schien, wann immer er in Sichtweite des verdammten Dings kam, nun, dann musste das eben sein, nicht wahr?

Wenigstens war er nicht der Einzige. Im Gegensatz zu Leslie, die hinsichtlich ihres Unbehagens am ersten Tag ganz offen gewesen war, hatte er mit niemandem darüber gesprochen, was er empfand. Oder hörte oder träumte. Aber er stellte allmählich fest, dass auch die Gesichter anderer verkniffen und beunruhigt wirkten. Er konnte es zwischen ihren Worten vernehmen.

Die Einzigen, die nicht auf dieselbe Weise betroffen zu sein schienen, waren Jake, R. M. und das Team von R. M. Verdammt, Jake hockte sich jeden Tag vor diese Kammer, ganz allein, und kam jedes Mal wieder so zum Vorschein, wie er immer gewesen war – vergnügt, geduldig, begeistert von dem, was er tat.

Vor zwei Tagen hatte Darius sich beinahe in die Hose gemacht, als ein tiefes, ächzendes Geräusch aus dem Tempel gedrungen war. Alle hatten innegehalten und einander aus großen Augen angesehen. Leslie hatte gekreischt. Ein bisschen nur. Darius’ Mund war knochentrocken gewesen.

»Es – es weint!«, hatte jemand gesagt. Und tatsächlich klang es genauso. Ein leises, wimmerndes Geräusch, wie von etwas, das so große Schmerzen litt, dass es über die Grenzen der Agonie hinausging…

R. M. war aufgestanden und hatte sich den Staub von den Handschuhen geklopft. »Mann, ihr seid wie ein Haufen kleiner Kinder«, sagte sie.

Das Geräusch erklang von Neuem. Darius’ Magen zog sich zusammen. Irgendetwas weinte im Inneren des Tempels.

R. M. deutete auf ihr Haar, das ihr, obschon es kurz war, zerzaust ins Gesicht hing. »Das ist der Wind, ihr…« Sie fing an zu lachen. »Kommt schon, Leute! In diesem Ding gibt es jede Menge Löcher aller Größenordnungen, und das erzeugt nun mal komische Geräusche.« Sie tauschte einen Blick mit dem großen blonden Sebastien, der ihr zugrinste.

Darius war fürchterlich rot geworden und machte sich wieder an seine Arbeit. Aber in dieser Nacht träumte er von jemandem… von… etwas… das in diesem uralten Tempel gefangen war, allein und unsagbare Schmerzen erleidend.

Darius schaute sich um. Niemand befand sich in seiner unmittelbaren Nähe. Niemand würde sehen, wie er einen kleinen Flachmann hervorholen und einen Schluck nehmen würde, bevor er ihn wieder einsteckte.

Der Schnaps brannte eine Spur in seine Kehle. Jake hatte allen erlaubt, eine gewisse Menge an alkoholischen Getränken eigener Wahl mitzubringen, wie er es bei jeder Ausgrabung getan hatte, an der Darius beteiligt gewesen war. Natürlich wollte Jake nicht, dass sie während der Arbeit tranken, aber Darius wusste mit geradezu krankhafter Gewissheit, dass er, wenn er diesmal nicht während der Arbeit trank… gar nicht imstande wäre, diese Arbeit zu tun.

Er nahm noch einen Schluck, dann steckte er den Flachmann wieder weg. Bisher war das Projekt noch jedes Mal abgeschlossen gewesen, bevor sein Alkoholvorrat aufgebraucht gewesen war.

Bisher.

KAPITEL 6

Es hätte eigentlich eine einfache, fast luxuriöse Ausgrabung sein sollen. Dank eben jener Kuppel, die ihnen die Luft zum Atmen lieferte, stellte das Wetter nie ein Problem dar. Die Temperatur lag bei konstant einundzwanzig Grad Celsius, und weder Wind noch Sturm oder Schnee störten die Arbeit.

Die neuen Leute – Rainsinger, Patel, Bryce, Teague und Petrov – waren die Einzigen, die sich darüber beschwerten. Jakes Stammteam hingegen aalte sich in der langweiligen Gleichheit eines jeden Tages. Nach Jahren, in denen sie größtenteils auf die Gnade der Elemente angewiesen waren, fanden die alterfahrenen Archäologen diese Monotonie geradezu himmlisch.

Aber dieselben Spannungen und Belastungen, die schon die Teams vor ihnen heimgesucht zu haben schienen, machten sich auch bei Jakes Team bemerkbar. Niemand schien gut zu schlafen.

Er nahm an, dass mehr als nur einer bei den Ärzten vorstellig geworden war, und das nicht wegen Verstauchungen oder Abschürfungen. Solange die Ärzte in diesen Personen keine Gefahr für sich selbst oder andere oder den Erfolg der Mission sahen, würde Jake nicht darüber informiert werden, das wusste er. Er respektierte das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, dennoch nagte es ein wenig in ihm. Mehr als einmal war er in den Speiseraum gekommen, und leise Unterhaltungen waren bei seinem Eintreten verstummt. Es war frustrierend.

Noch frustrierender war die Kammer, die sich stur weigerte, ihre Geheimnisse preiszugeben.

Dabei war Jake eigentlich ein Rätselmeister. Dafür war er bekannt, deswegen hatte man ihn angeheuert.

Jemand hatte hier etwas in einer Sprache geschrieben, die noch niemand gesehen hatte, und das mit dem Blut eines Wesens, über das es keinerlei Aufzeichnungen gab. Ein Code? Eine unverblümte Nachricht? Unsinniger Quatsch? Rituelle Inschriften? Das Gegenstück zu den prähistorischen Höhlenmalereien der Erde?

Momentan beneidete er Jean-Francois Champollion aufs Heftigste. Dieser Gelehrte aus einer längst vergangenen Zeit war derjenige gewesen, der die ägyptischen Hieroglyphen entschlüsselt hatte, die für die Europäer des neunzehnten Jahrhunderts ebenso seltsam und fremdartig ausgesehen hatten wie für Jake diese Wirbel, Punkte und Kurvenlinien, die er jetzt betrachtete.

Aber dieser Glückspilz besaß einen Rosettastein, der ihm geholfen hatte. Jake hingegen hatte nur die Mutmaßungen derer, die vor ihm hier gewesen waren, und seinen eigenen Instinkt.

Ach so, ja… da war noch ein netter kleiner Haken. Die alten Ägypter waren wenigstens Menschen gewesen. Dies hier aber war die Schrift einer fremden Rasse, wahrscheinlich der Protoss, hätte er raten müssen. Und wer zum Teufel wusste schon, wie die Protoss dachten? Was würden sie in Blut niederschreiben wollen?

Also saß Jake vor dem Tor, verbrauchte manchmal Batterien, während er über die Schrift rätselte, manchmal saß er auch im Dunkeln da und versuchte, so zu denken wie ein Protoss.

Er ging im Geiste durch, was er wusste. Sie waren elegant und anmutig im Kampf, das hatten die Vids gezeigt. Sie waren diszipliniert. Ihre Panzerung leuchtete und war mit Werkzeugen ausgestattet, die es ihnen erlaubten, kraft ihrer Gedanken Dolche zu erschaffen.

Sie kämpften wie tanzende Roboter – was gewiss die Manifestation eines grundsätzlichen kulturellen Gebarens war. Sie aßen nicht, oder wenn sie es taten, dann nicht so wie die Terraner. Sie hatten keinen Mund, keine Ohren, keine Nase, nur diese großen Augen. Das Sehvermögen war demnach vermutlich ihr wichtigster Sinn. Sie waren ungeheuer intelligent und verfügten angeblich über unfassbare telepathische Fähigkeiten.

Jake seufzte tief und rieb sich mit einer Hand über das Gesicht, wobei er beiläufig feststellte, dass er sich wieder einmal rasieren musste.

Er hegte größte Zweifel, was sogenannte psychische Fähigkeiten anging; er nahm an, dass die Gerüchte und Geschichten darüber womöglich völlig aus der Luft gegriffen oder von der Regierung bewusst übertrieben wurden, um für eine gewisse anhaltende Spannung innerhalb der Bevölkerung zu sorgen.

Er hatte die Storys über die Konföderation gehört und darüber, dass das Dominion jetzt angeblich »Ghosts« einsetzte, telepathische Attentäter, die über eine Art Tarnvorrichtung verfügten, die es ihnen erlaubte, sich ungesehen zu bewegen.

Passt auf, Kinder, da draußen treibt sich ein Ghost herum. Vielleicht… werdet ihr es nie erfahren!

Jake vertraute darauf, was seine Sinne – fünf an der Zahl – ihm verrieten, und auf weiter nichts. Der Versuch, wie eine Rasse zu denken, die angeblich über geistige Fähigkeiten verfügte, die ihr zu den Ohren heraustropften – nun ja, wenn ihre Vertreter denn Ohren hätten –, verlangte ihm mehr ab als irgendetwas sonst.

Aber ein Rätsel war ein Rätsel, und Jake war Jake, und er würde ihm auf den Grund gehen. Selbst wenn es bedeutete, dass er denken musste wie ein grauhäutiger Alien ohne Nase, Mund und Ohren, der Gedanken lesen konnte.

Er hätte so viel lieber Hieroglyphen entschlüsselt.

Sein Funkgerät knisterte. »Hey, Jake?« Es war Teresa.

»Ja, Teresa, was gibt’s?«

»Mr. V will mit dir sprechen, und zwar pronto.« Sie waren alle übereingekommen, ohne darüber diskutieren zu müssen, dass es ihnen angenehmer war, ihren Gönner »Mr. V« zu nennen anstatt »Seine Exzellenz« oder »Valerian« oder »Thronerbe«.

Doch ganz gleich, wie sie ihn nannten, Jakes Eingeweide schnürten sich stets zusammen, wann immer er mit dem jungen Mann sprechen musste.

»Bin schon unterwegs.«

*

»Jake! Irgendwelche Fortschritte?«

Jake wusste, was er meinte. Valerian wollte nichts über den Tempel wissen, obwohl sie allmählich ein paar faszinierende Dinge herausfanden. Valerian wollte wissen, ob er den Code geknackt hatte, ob er weitergekommen war in seinem Versuch, herauszufinden, was zum Teufel in dieser Kammer war.

»Nun, ich bin ziemlich sicher, dass es sich bei der Sprache um Protoss handelt«, antwortete Jake.

Valerian wirkte nicht beeindruckt. »Das sagten Sie schon in Ihrem zweiten Bericht.«

Das wusste Jake auch. Er sprach rasch weiter. »Die Frage ist: Warum haben sie die Nachricht gerade dort niedergeschrieben? Und ob sie wussten, was darin war, und ob sie dieses… äh… psychische Schloss installierten – oder ob es die ursprünglichen Schöpfer des Tempels taten.«

Valerian furchte die Stirn. »Das haben Sie ebenfalls schon gesagt.«

Verdammt. Das hatte er tatsächlich schon gesagt, oder? Er zögerte. »Nun… es gibt da etwas. Es hat aber nichts mit der Kammer zu tun. Sondern mit dem Tempel an sich.«

Valerian kniff seine grauen Augen zusammen. »Fahren Sie fort.«

»Also… ich muss sagen, dass ich mit Carlisle nicht übereinstimme. Ich glaube nicht, dass wir es hier mit einem Schiff zu tun haben. Als Theorie funktioniert das recht gut, aber es hält einer genaueren Betrachtung nicht stand. Zum einen stellt sich die Frage«, sagte er, sich für das Thema erwärmend, »warum ein Pilot ein Gefährt nehmen, es landen und dann für wer weiß wie viele tausend Jahre dort bleiben sollte? Und als er von Bord gehen musste, warum explodierte er da aus dem Schiff heraus?«

Valerian lächelte. »Und wie sieht Ihre Theorie aus?«

»Ich glaube, dieses Gebäude war in der Tat dazu gedacht, etwas zu beherbergen. Aber es ist kein Schiff. Ich glaube… ich glaube, es ist ein Ei. Ich glaube, das Energiewesen wächst darin heran, bis es bereit ist zu schlüpfen, und dann bricht es sich seinen Weg daraus frei.«

Der Thronerbe machte einen neugierigen Eindruck. »Weiter.«

»Und… wir wissen momentan nicht, wie viele Junge in einem einzelnen Ei leben. Der Tempel auf Bhekar Ro war sehr grün, sehr organisch und er wirkte höchst lebendig. Dann brach das Geschöpf daraus hervor, und er wurde dunkel. Dieser Tempel hier ist bereits dunkel… an der Außenseite. Aber in der Mitte… in dieser Kammer, in die ich vorzudringen versuche… ist er viel grüner.«

Valerian sagte: »Dann glauben Sie also… dass sich ein weiteres Energiewesen darin befinden könnte?«

»Das ist durchaus möglich, auch wenn es im Augenblick nichts weiter als eine Theorie ist. Aber sie passt zu allem, was wir bislang wissen.«

»Was sehr wenig ist«, warf Valerian ein. Das war eine Maßregelung.

»Leider komme ich nicht umhin, Ihnen in diesem Punkt zuzustimmen. Aber ich verwende jede Stunde darauf, hinter dieses Rätsel zu kommen, und mein Team arbeitet fleißig.«

Der zukünftige Kaiser lächelte. »Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst. Und Sie müssen mir meine Ungeduld verzeihen. Ich weiß, Sie brennen wie ich vor Neugier, endlich zu erfahren, was sich darin befindet. Und ich bin sicher, Sie werden mich auf der Stelle informieren, wenn Sie einen Weg dort hinein gefunden haben. Ganz gleich, wie spät es ist. Ich möchte sehen, was Sie sehen, wenn Sie es sehen.«

»Natürlich.«

»Machen Sie weiter so. Und lassen Sie mich nicht mehr lange warten, hm? Konzentrieren Sie sich auf diese Schrift. Es könnte sein, dass sie uns genau verrät, was in der Kammer ist. Sollte eigentlich ganz leicht sein. Denken Sie einfach wie ein Protoss.« Valerian zwinkerte ihm zu und verschwand. Das Logo des Dominions erschien auf dem Bildschirm.

Jake starrte den dunklen Schirm lange, lange an.

*

Auf Nemaka waren die Tage sechsundzwanzig Stunden lang. Für achtzehn Stunden leuchtete der Schutzschirm, der sich über den Archäologen spannte, in einem sanften Blau. Für acht Stunden wurde er indigoblau, um das Schlafen zu erleichtern. In manchen Nächten funktionierte es, heute Nacht jedoch nicht.

Jake wälzte und drehte sich hin und her, seine Gedanken rasten. Es war nun fast zwei Monate her, seit er hier eingetroffen war, und er war der Lösung des Rätsels nicht viel näher als am ersten Tag. Valerian hatte leicht reden, wenn er unbekümmert sagte: »Denken Sie wie ein Protoss.« Nur hatte niemand auch nur die geringste Ahnung, wie diese anmutigen, reptilienartig wirkenden Dinger zu denken pflegten.

Er hatte auch andere Methoden ausprobiert, sich manchmal einfach nur auf Intuitionen verlassen. Aber er war kein Protoss, und er konnte nicht wie ein solcher denken, und außerdem hatten das vor ihm bereits andere versucht und waren gescheitert.

Er stand auf, dankbar für den Luxus einer eigenen Unterkunft, den man ihm als Leiter der Ausgrabung zugestand, und zog sich an. Vielleicht würde ihm ein Spaziergang um die Ausgrabungsstätte helfen.

Er zuckte zusammen unter dem Lärm, den die Steinraupe beim Anlassen machte, aber er war so weit von den Schlaf quartieren entfernt, dass er hoffen durfte, keinen der anderen aufgeweckt zu haben.

Jake fuhr trotz der Dunkelheit fast wie auf Autopilot zur Ausgrabungsstelle. Dieser Zustand anhaltender Verwirrung war ihm schließlich nicht neu. Er hatte ihn schon viele Male erlebt, und stets war es, als läge die Antwort auf der anderen Seite eines Tales. Manchmal war dieses Tal nur eine Absenkung der Straße. Und manchmal, wie jetzt, schien es wie eine bodenlose Grube.

Manchmal saß er minutenlang da, manchmal tagelang. Diesmal saß er schon seit Wochen da. Er brauchte etwas, irgendetwas, um sein Gehirn auf Trab zu bringen.

Er stieg aus der Steinraupe und ging auf den Tempel zu. Im unheimlich wirkenden, künstlichen dunkelblauen Licht der Schutzkuppel ragte er vor ihm auf. Als er ihn nun betrachtete, glaubte Jake zu verstehen, dass er furchteinflößend wirken konnte. Nichtsdestotrotz hatte sein Team doch schon Unheimlicheres erkundet. Oder nicht? Was zum Teufel war hier so beunruhigend? Er hatte keine Angst vor dem Alien-Tempel. Er war nur wütend auf das Ding, weil es seine Geheimnisse so selbstgefällig hütete.

Verärgert trat Jake in den Boden und löste damit einen Stein, in dem sich der beinahe perfekte Abdruck eines Blattes abzeichnete. Das helle, harte Scheinwerferlicht der Steinraupe fiel außerdem noch auf weitere Steine mit anderen Blättern und Muscheln. Jake gab sich keine Mühe, sie nicht zu zerstören; es gab buchstäblich Tausende davon. Er ging weiter, die Hände in den Taschen, die Schultern hochgezogen, den Blick gedankenlos auf den Boden gerichtet, über den seine Füße sich bewegten.

Was war es, das er übersah? Er bekam allmählich das krank machende Gefühl, dass er irgendwie falsch an diese Sache heranging und dass er, wenn er diesen Weg weiter beschritt, niemals aus seinem jetzigen Tal herausfinden würde.

Er blickte auf ein weiteres fossiliertes Blatt. Für gewöhnlich faszinierten ihn solche Dinge, auch wenn eines wie das andere aussah. Ganz egal, auf welchem Planeten er gewesen war, ganz egal, wie anders und fremdartig Blätter zunächst aussahen, wenn man sie genauer betrachtete, wiesen sie eine tiefe, anhaltende Ähnlichkeit auf.

Sein Fuß knirschte über einen weiteren Stein, und der fossilierte Abdruck eines Schneckenhauses mit perfekten Windungen um den Goldenen Schnitt in seiner Mitte wurde sichtbar. Auch sie waren sich gleich, Mollusken, die ihre Gehäuse mit gespenstischer Präzision bauten. Auf welcher Welt auch immer. Es gab bestimmte leitende Ähnlichkeiten, gewisse Vertrautheiten, aus denen Jake so etwas wie Trost schöpfte. Der Goldene Schnitt war so etwas. Ganz egal, wie fremd die Welt war, er schien universell zu sein. Jake -.

Es brach wie eine Welle über ihn herein.

TEIL2

Fast schwindlig unter der plötzlichen Flut des Verstehens, fiel Jake auf die Knie und ergriff das Schneckengehäuse.

Da war es, diese Zeichnung der Windungen, auf dieser fremden Welt dieselben wie auf der Erde, wie auf Gelgaris, wie auf Pegasus, wie auf jedem Planeten, auf dem er je gewesen war. Jede Windung war ein klein wenig länger als die vorherige. Ein Verhältnis von 1 zu 1,6.

Und das Blatt… da war sie, dieselbe Reinheit, alle Adern standen im selben Verhältnis zueinander.

Jake war übel, doch er konnte nicht sagen, ob vor Angst oder vor Hoffnung. Wahrscheinlich ein bisschen von beidem. Er streckte seine schwielige Hand in das grelle, weiße Licht der Steinraupe, merkte, dass die Hand wie verrückt zitterte, und starrte sie an. Der Knochen, der die Spitze seines Fingers bildete, war eine Spur kürzer als der zweite Knochen… der wiederum etwas kürzer war als derjenige, der den Finger mit der Hand verband, und auch das in demselben perfekten Verhältnis 1 zu 1,6.

Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern, wie Protosshände aussahen. Er wusste, dass sie ganz anders waren als Menschenhände, aber wie unterschieden sie sich genau davon?

Jake schloss die Augen und versuchte, sich die wenigen flüchtigen Blicke auf gepanzerte Protosshände in Erinnerung zu rufen, die auf Vid festgehalten worden waren. Sie waren lang und zierlich. Sie hatten nicht vier Finger und einen Daumen, sie hatten – ach, was war es noch gleich? – zwei Finger zwischen zwei Daumen. Verschiedene Beuteltiere, auf die Jake getroffen war, besaßen ebenfalls zwei Daumen.

Er kniete lange in den Steinen und versuchte sich zu beruhigen. Er wusste, dass er zum Stützpunkt zurückgehen sollte, um die anderen und die Kameras zu holen und um Valerian zu benachrichtigen.

Er wusste, das war genau das, was er hätte tun sollen.

Aber das würde er nicht tun.

Jake wusste, dass er nicht zum »Einzelgänger« taugte. Tief in sich drin wusste er, dass er dazu nicht mutig genug war, dass er normalerweise ganz zufrieden damit war, die Dinge vorschriftsmäßig anzugehen. Aber diesmal…

Wenn er Recht hatte, dann wollte er diesen Augenblick für sich allein haben. Und wenn er sich irren sollte, wollte er nicht wie ein Idiot dastehen vor seinem Team und »Mr. V«.

Wenn er richtig lag, dann war später noch genug Zeit, die anderen dazuzuholen. Jetzt allerdings würde Jake Ramsey seine Theorie allein auf die Probe stellen.

Er schaute noch einmal nach dem versteinerten Weichtier und hielt es mit beiden Händen, die immer noch zitterten. Er umfasste das Fossil mit einer Hand, in der anderen hielt er die Taschenlampe, und so stand er auf, stolperte ein wenig und schaltete die Lampe ein. Er glaubte, er würde den Weg auch dann finden, wenn er die Kurven und Windungen der Gänge des Tempels im Dunkeln nehmen müsste, so oft war er diesen einen Weg schon gegangen.

Er beeilte sich, sein Herz raste, er versuchte, seine Aufregung einigermaßen zu zügeln – selbst wenn es ihm gelingen sollte, diese Kammer zu betreten, hieß das noch lange nicht, dass er darin etwas Interessantes finden würde –, aber dieser Versuch schlug völlig fehl.

Jake kletterte die Leiter hinunter, sprang zu Boden und richtete die Taschenlampe auf die Wand.

Wie er es Dutzende, vielleicht auch schon Hunderte Male zuvorgetan hatte, drückte er seine Hand gegen das Tor. Die leuchtenden Umrisse eines Rechtecks erschienen.

Aber es war nicht die Art von Rechteck, die man in einem Durchgang zu sehen erwartete. Es war oben breiter – und das, Verhältnis der horizontalen Linien zu den vertikalen…

Warum hatte er das nicht gleich gesehen?

Jake bekam eine Gänsehaut. »Es war die ganze Zeit da, direkt vor meiner Nase«, flüsterte er.

Oder vielmehr unter seiner Hand. Der Hinweis war von Anfang an da gewesen.

Wie ein Terraner zu denken, würde ihm nichts nützen. Das hatte er gewusst; alle Teams, die vor ihm hier gewesen waren, hatten das gewusst. Und er war beinahe in dieselbe Gedankenfalle geraten wie sie – versuchen zu wollen, wie ein Protoss zu denken.

Wer immer dieses Tor verschlossen hatte, wer immer eine in Blut geschriebene Nachricht auf dieser Seite hinterlassen hatte, war nicht daran interessiert gewesen, wie ein Protoss zu denken.

Wer immer es war, er hatte in sehr viel universelleren Maßstäben gedacht.

Jake ließ seine Hand auf dem Tor, und die Umrisse leuchteten weiter. Mit der anderen Hand fand er ein Stück Kreide in einer seiner Taschen und fuhr die Konturen nach. Als er seine Hand wegnahm, verblasste das Licht.

Jake stellte rasch die Berechnung an und kam auf das Verhältnis – wie er erwartet hatte, handelte es sich um ein perfektes Goldenes Rechteck, das Verhältnis betrug exakt 1 zu 1,6.

Es war ein Leichtes, mehrere kleinere Rechtecke mit demselben Seitenverhältnis abzumessen, eines innerhalb des anderen, bis Jake das Herz fand. Nicht die Mitte… das Herz. Den Ursprungspunkt der herrlichen Spiralwindung des Schneckengehäuses; er lag zum Boden hin, ein wenig nach links versetzt.

Er trat vor und markierte den Punkt mit einem X. Seine Hände schwitzten.

»Okay, Jake, los geht’s.«

Er legte seine Hand über das X, das er auf das Tor gemalt hatte.

Der Umriss erschien, wie er es jedes Mal getan hatte. Aber davon abgesehen… geschah nichts.

Die Enttäuschung war schockierend. Warum hatte es nicht funktioniert? All die Hinweise, die es gab! Hatte er sich verrechnet? Vielleicht sollte er besser ins Lager zurückgehen und etwas holen, mit dem er genauer messen konnte. Vielleicht…

Und dann lachte er. Wer immer dieses Rätsel gestellt hatte, verstand sich so gut darauf, dass er mehr getan hatte als nur das. Es war purer Zufall gewesen, dass er die Wand überhaupt berührt hatte.

Und ebenso gut hätte jemand anders seine Hand zufällig auf die richtige Stelle legen können.

»Nein, das wäre nicht vorsichtig genug«, sagte er zu dem unbekannten und schwer durchschaubaren Alien, dessen Werk sein Denken Tag und Nacht beschäftigt hatte. »Und du bist vorsichtig, nicht wahr?«

Er musste beweisen, dass er das Geheimnis wirklich gelüftet hatte – dass er begriff. Jake ging in die Knie und begann, eine Spirale durch die Rechtecke zu zeichnen. Als er die obere linke Ecke erreichte, musste er sich dazu auf die Zehenspitzen stellen.

Da war sie, die perfekte Spirale, Terranern bekannt als Fibonacci-Spirale, nachgebildet auf zahllosen Muschel- und Schneckengehäusen auf zahllosen Welten. Und immer, immer wunderschön.

Jake legte seine Hand ein weiteres Mal auf das X, aber diesmal schob er sie rasch eine Handbreit weiter auf der Windung der Spirale. Immer noch nichts. Er machte verbissen weiter. Drei, vier, fünf, sechs, sieben…

Und dann erwachte die Linie, die er mit Kreide gezeichnet hatte, zu eigenem grün leuchtendem Leben.